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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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das Manuskript zu, aus dem er Émilie bestimmt gerade vorgelesen hatte, und kam uns begrüßen. Er umarmte mich eine Spur fester als die anderen. Über seine Schulter hinweg ertappte ich Émilies Blick, der meinen suchte. Madame Cazenaves Stimme hallte in meinen Schläfen: Émilie ist ein Kind. Ihr Herz klopft bald so, bald so. Sie ist imstande, sich in jedes beliebige Lachen zu verlieben, verstehen Sie? Und ich möchte auf keinen Fall, dass sie sich in Ihr Lachen verliebt. Eine furchtbare Beklemmung, schlimmer als je zuvor, hinderte mich daran, zu hören, was Fabrice mir ins Ohr flüsterte.
    Während Simon die Anwesenden mit seinen verrückten Geschichten so amüsierte, dass sie vor Lachen schon Seitenstechen hatten,war ich den ganzen Abend nur auf dem Rückzug vor den fortwährenden Anstürmen Émilies. Nicht dass ihre Hand unter dem Tisch nach mir getastet oder sie das Wort an mich gerichtet hätte; sie saß mir einfach nur gegenüber und verdeckte den Rest der Welt.
    Sie verhielt sich ruhig, tat so, als interessiere sie sich für die Späße ringsum, aber ihr Lachen war angestrengt. Sie lachte nur pro forma, aus Höflichkeit. Ich sah, wie sie die Finger knetete, ineinander verknotete, nervös und ein wenig verloren, gleich einer verängstigten Schülerin, die darauf wartet, dass sie an die Tafel gerufen wird. Von Zeit zu Zeit richtete sie ihren Blick inmitten der allgemeinen Ausgelassenheit auf mich, um zu sehen, ob ich mich ebenso amüsierte wie die anderen. Ich hörte meine Freunde nur mit halbem Ohr prusten. Wie Émilie lachte auch ich nur pro forma. Wie bei Émilie waren auch meine Gedanken woanders, doch dieser Umstand machte mir zu schaffen. Mir behagten meine Hintergedanken nicht, diese in meinem Kopf wie giftige Blüten knospenden Vorstellungen. Ich hatte versprochen , hatte geschworen … Seltsamerweise blieben die Skrupel, die mich sehr wohl packten, wirkungslos. Ich empfand, und verstand nicht wieso, ein geradezu perfides Vergnügen, die Versuchung weidlich auszukosten. In welches Wespennest stach ich da? Warum bedeuteten meine Schwüre mir plötzlich nichts mehr? Ich fing mich wieder, wandte mich von neuem Simons Geschichten zu, versuchte, mich zu konzentrieren – umsonst. Nach ein paar Sätzen, ein paar Lachern verlor ich den Faden und ertappte mich schon wieder dabei, wie ich versuchte, Émilies Blick standzuhalten. Eine überirdische Stille enthob mich der nächtlichen Geräusche der Veranda. Ich schwebte in einem unendlichen Nichts, und mein einziger Anhaltspunkt waren Émilies himmelgroße Augen. Das konnte so nicht weitergehen. Was ich da tat, war Betrug und Verrat, ruchlos bis unter die Fingernägel, bis in die Haarwurzeln. Ich musste schnellstmöglich fort von hier, weg von diesem Tisch, nach Hause. Ich hatte Angst, Fabrice könne etwas merken. Das hätte ichnicht ertragen. So wenig wie Émilies Blick. Immer, wenn er auf mich fiel, beraubte er mich eines Stücks meiner selbst. Ich fühlte mich wie ein alter Mauerwall, der unter dem steten Anprall der Abrissbirne zerfällt.
    Ich passte einen günstigen Moment ab, um vom Wohnzimmer aus Germaine anzurufen und sie zu bitten, mich zurückzurufen. Das tat sie zehn Minuten später.
    »Wer war das?«, fragte Simon beunruhigt, als er mich mit besorgter Miene auf die Veranda treten sah.
    »Germaine … Meinem Onkel geht es nicht gut.«
    »Soll ich dich rasch nach Hause fahren?«, erbot sich Fabrice.
    »Ist nicht nötig.«
    »Gib Bescheid, wenn es etwas Ernstes ist.«
    Ich nickte und war schon auf und davon.
    In diesem Jahr war der Sommer tropisch heiß. Und die Weinlese spektakulär. Ein Ball jagte den nächsten. Tagsüber wurden die Strände gestürmt, abends Hunderte von Lampions und Lichterketten angezündet, und los ging’s. Der Reigen der Musikkapellen riss nicht ab, und es wurde bis zum Umfallen getanzt. Bald gab es eine Hochzeit zu feiern, bald einen Geburtstag, bald eine Verlobung, bald lud der Bürgermeister zum Tanz. In Río Salado hatte man die Gabe, eine schlichte Grillparty in ein Volksfest zu verwandeln und dem kaiserlichen Ballett Konkurrenz zu machen, sobald auch nur irgendwo ein Grammophon erklang.
    Ich mied diese Feste, wo es nur ging, und blieb, wenn überhaupt, immer nur kurz; ich kam als Letzter und verschwand so schnell, dass keiner es merkte. Da jeder jeden einlud, fand sich unsere Clique häufig auf der Tanzpiste wieder, und ich befürchtete, Émilie und Fabrice ihren langsamen Walzer zu verderben. Sie waren ein so schönes

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