Die Schuld einer Mutter
ein.
Es klingelt, und sie meldet sich.
Eine kleine Pause, in der sie tief Luft holt und an ihrer Zigarette zieht, bevor sie etwas sagt. »Hallo?«, fragt sie und hustet dann.
»Ich bin’s.« Wie zu befürchten war, versagt meine Stimme.
Sie weiß, was passiert ist. Der Ort ist klein, und Neuigkeiten verbreiten sich in Windeseile. Meine Mutter macht in der NatWest-Bank sauber, bevor die Schalter öffnen, und von dort geht es direkt weiter zu ihren anderen Putzjobs. Sie bräuchte drei Häuser pro Woche weniger zu reinigen, wenn sie auf ihre vierzig Kippen täglich verzichten könnte. Aber ihre Antwort darauf lautet, dass sie kein anderes Vergnügen mehr hat und ohne die Zigaretten nicht zur Toilette gehen kann. Also versuche ich, sie diesbezüglich in Ruhe zu lassen.
Ich erzähle meiner Mutter, dass ich unbedingt meine Kinder nach Hause holen will, dass ich Angst um sie habe, bis sie mit fester Stimme sagt: »Lise, lass die Kinder in der Schule. Du tust ihnen keinen Gefallen, wenn du sie jetzt nach Hause holst. Nicht in deinem Zustand. Außerdem wird heute sowieso niemand versuchen, ein Kind zu kidnappen. Nicht heute, wo alle in Alarmbereitschaft sind.«
In Krisenzeiten behält meine Mutter stets die Nerven, immer schon. Wahrscheinlich ging es gar nicht anders, schließlich waren wir die Zweitfamilie meines Vaters, die andere Familie. Er lebte in Wigton im Norden der Grafschaft, und wir bekamen ihn nur alle drei oder vier Wochen zu Gesicht. Ich wuchs mehr oder weniger in Armut auf, und meine Mutter ging mehreren Jobs gleichzeitig nach, um uns über die Runden zu bringen. Mein Dad ließ uns an Unterhalt nur das zukommen, was er erübrigen konnte. Weil er aber noch vier andere Kinder in Wigton hatte, war das niemals viel.
Einmal war der Winter besonders hart, und ein paar Kinder aus der Nachbarschaft hatten vor unserem Haus eine Eisrutsche gebaut. Damals besaß niemand einen Schlitten, wir rutschten auf Tabletts und Müllsäcken. Ich kann mich an ein Kind erinnern, das einen Schwimmreifen mitbrachte.
Wir standen in einer Warteschlange vor der Eisrutsche an, als ein Auto um die Ecke bog. Es war ein Taxi, einer jener riesigen Rover mit dreieinhalb Litern Hubraum, breit wie ein Panzer. Er hielt neben uns, und eine Frau stieg aus.
Sie war gut gekleidet. Elegant. Sie trug einen beigen Kamelhaarmantel mit einer Gemme am Revers, und ihr Haar war zu einem ordentlichen Dutt hochfrisiert. Ihre Lederhandtasche war trapezförmig, so wie jene, wie sie auch Maggie Thatcher und die Queen bevorzugten, und nachdem sie den Blick über die zerlumpte Arbeiterkindergruppe hatte schweifen lassen, schockierte sie uns alle mit der Frage: »Nun, wer von euch ist Harolds kleiner Bastard?«
Ein paar der älteren Jungs kicherten über ihre Wortwahl.
Natürlich war ich gemeint. Ich wusste nicht genau, was das Wort »Bastard« zu bedeuten hatte, aber ich hatte es schon einmal gehört und wusste, es hieß nichts Gutes.
Weil niemand antwortete, durchquerte sie unsere Gruppe und betrat mit zaghaften Schritten den verschneiten Pfad vor unserer Haustür. Meine Mutter öffnete ihr, und die Frau verschwand im Haus.
Dann fing es zu schneien an. Dicke Schneeflocken in allen Formen fielen herab, groß wie Mandarinen, und weil ich nur einen dünnen Anorak trug – die Art von Jacke, die man einem Kind an einem regnerischen Junitag mitgeben würde –, lief ich hinein.
Die Frau saß auf der Sofakante im Wohnzimmer – das einzige Zimmer neben dem Bad, das sich in unserem Haus überhaupt beheizen ließ –, und sobald ich hereinkam, sprang sie auf und klatschte in die Hände. »Lisa! Wie schön, dich endlich kennenzulernen«, flötete sie. Irritiert sah ich meine Mutter an, aber die schien über den Besuch ebenso erstaunt zu sein wie ich.
»Ich bin die Frau von deinem Daddy«, erklärte sie immer noch lächelnd. Und dann sagte sie zu meiner Mutter: »Marion, wir sollten einen Tee zusammen trinken. Wie wäre es, wenn Sie den Tee machen, während ich dem Mädchen seine Geschenke überreiche?«
Meine Mutter gehorchte und verschwand in der Küche. Im nächsten Moment hörte ich die Hintertür zufallen, weil sie sich auf den Weg zu den Nachbarn machte, um Milch zu borgen oder Zucker oder Tee oder Tassen – was auch immer gerade an diesem Tag fehlte. Die Ehefrau meines Vaters griff in ihre Handtasche und zog zwei Stangen Weingummi und eine große Tafel Luftschokolade heraus.
Dann, als ich genüsslich kauend am Kamin saß, griff sie noch einmal in die
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