Die Schuld einer Mutter
Tasche und zog ein Stanley-Klappmesser heraus. Sie fuchtelte damit dramatisch in der Luft herum und sagte: »Lisa, du musst jetzt genau hinsehen und deinem Daddy alles erzählen.« Ich nickte ernst, glaubte ich doch, sie spräche immer noch von den Süßigkeiten. Ich wusste nicht, was das mit dem Messer sollte.
Und dann tat sie das Unfassbare. Sorgfältig krempelte sie die Ärmel ihres Kamelhaarmantels bis zu den Ellenbogen auf, sodass ihre milchweißen Arme zum Vorschein kamen, und dann machte sie sich daran, sich tiefe, tiefe Schnitte in die Handgelenke zuzufügen.
Ich war zu verängstigt, um mich zu rühren, und bis meine Mutter zurückkam, um die Besucherin zu fragen, wie sie ihren Tee trinken wolle, war die Ehefrau meines Vaters auf dem Sofa zusammengesackt, und das Blut lief ihr über ihre Knie wie eine rote Decke.
»Geh zu den Nachbarn«, sagte meine Mutter lapidar. Dann fügte sie für niemand Bestimmtes hinzu: »Ich habe ihm immer gesagt, dass das eines Tages passieren würde. Ich wusste, es würde so weit kommen.«
Wir sahen meinen Vater niemals wieder, und wann immer sich eine Schwierigkeit auftat, bewältigte meine Mutter sie allein. Auf die gleiche Art und Weise, in der sie heute mit mir umgeht, ganz pragmatisch, ohne zu zetern und ohne ein Drama zu veranstalten.
»Was soll ich nur tun?«, frage ich hysterisch. Meine Schläfen pochen.
»Was du tun sollst? Ich sage, lass die Kinder in der Schule.«
»Wegen Kate. Irgendwas muss ich tun. Ich kann nicht einfach zu Hause herumsitzen, da drehe ich durch.«
»Joe hilft bei der Suche mit«, sagt sie. »Du kannst nichts tun.«
»Ich habe ihr versprochen, sie zu finden.«
Meine Mutter nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Tja, ein verdammt blödes Versprechen, das du da abgegeben hast. Wie in aller Welt bist du darauf gekommen?«
»Weil Kate es sich gewünscht hat«, sage ich. »Was hätte ich ihr antworten sollen? Hätte ich nein sagen sollen?«
»Nun, dann mach dich eben auf die Suche.«
»Ich habe kein Auto.«
»Aber du hast zwei Beine, oder?«, fragt sie. »Benutze sie.«
Ich verlasse das Haus mit der vagen Vorstellung, auf Kates Seite des Tales mit meiner Suche zu beginnen. Ich habe überhaupt keinen Plan und hege keine große Hoffnung, fündig zu werden. Aber es ist, wie ich meiner Mutter gesagt habe: Ich kann nicht länger untätig zu Hause herumsitzen.
Normalerweise dauert der Fußweg zu Kate etwa fünfundzwanzig Minuten. Ich trage meine Wanderschuhe, weil meine Gummistiefel kein Profil mehr haben, und habe mich so dick eingepackt wie möglich, ohne dabei bewegungsunfähig zu sein. Normalerweise käme es mir seltsam vor, das Haus ohne die drei Hunde zu verlassen. Es ist, als würde ich sie um einen Spaziergang betrügen, wenn ich allein losgehe.
Bis ich die Hauptstraße erreicht habe, rutsche ich mehrfach aus. Der Asphalt ist spiegelglatt und glänzt schwarz. Die Sonne steht tief am Himmel und lässt die Eiskristalle auf dem Gehsteig glitzern und funkeln. Mein langer Schatten erstreckt sich vor mir auf dem Boden. Ich bin sieben Meter lang, und mein Kopf hat die Größe eines Tennisballs.
Gestern um diese Zeit ist Lucinda verschwunden, und auf einmal frage ich mich, ob sie dem Wetter entsprechend gekleidet war. Fast jeden Morgen streite ich mit Sally und James um die Jacken. »Niemand trägt heutzutage noch einen Mantel«, singen sie einstimmig, außerdem weigert James sich mittlerweile standhaft, Klamotten von The Gap zu tragen. »Mum, die machen Klamotten für Schwule!«
»Das ist Unsinn«, erkläre ich, aber er hat die Küche längst verlassen, und meine Meinung interessiert niemanden.
Er ist erst zwölf, aber ich kann jetzt schon den Teenager sehen, zu dem er sich entwickeln wird. Er schleicht durchs Haus, um jede Begegnung zu vermeiden. Wenn ich in die Küche komme, höre ich seine leisen Schritte auf der Treppe nach oben. Ich erinnere mich an die Angstzustände kurz vor seiner Geburt, an die lähmende Gewissheit, dass ich kein Baby jemals so würde lieben können, wie ich Sally liebte. Wie um alles in der Welt sollte ich es schaffen, zum zweiten Mal so viel Liebe aufzubringen? Und dann war er plötzlich da. Und mit ihm die Liebe. Es war kein bisschen anstrengend. Ich sehne mich danach, ihm diese Liebe zu schenken, aber er entzieht sich mir. Er braucht meine Liebe jetzt gerade nicht so sehr. Er braucht mich nicht.
Meine Gedanken fliegen wieder zu Lucinda, und ich frage mich, ob sie gestern ohne Jacke aus dem Haus gegangen
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