Die Schuld einer Mutter
ist. Bei diesen Temperaturen überlebt man draußen keine einzige Nacht. Normalerweise ist das Wetter an den Seen mild, und solange man nicht etwas besonders Dummes unternimmt – wie zum Beispiel mit Flipflops auf den Great Gable oder den Sca-fell zu steigen –, kann man eine Nacht im Freien überstehen. Normalerweise kommt hier niemand wegen Unterkühlung um.
Aber nicht bei diesem Wetter. Nicht gestern Nacht.
Auf einmal sehe ich vor mir, wie die tote Lucinda an einer Bruchsteinmauer liegt, achtlos weggeworfen. Mit nacktem Oberkörper, so wie dieses andere Mädchen.
Nur dass Lucinda nicht mehr lebt. Diesmal hat er beschlossen, das Mädchen zu töten, bevor er es aus dem Auto wirft und davonfährt.
Ich bin auf der Schattenseite des Tals unterwegs und stapfe durch den Schnee zu Kate und Guy. Ich versuche, die schrecklichen Bilder abzuschütteln. Es wird immer kälter, und obwohl die Sonne scheint, ist es im Schatten dunkel. Dunkel und unheimlich.
Mein Verstand spielt mir einen Streich. Immer wieder sehe ich Farbflecken im weißen Schnee. Immer wieder reiße ich den Kopf herum, wenn ich die Dohlen zwischen den Bäumen höre, weil ich meine, Lucinda zu entdecken, wie sie dort oben sitzt und mir lächelnd zuwinkt.
Am Ende der Straße biege ich nach links ab, und auf einmal höre ich Lärm. Aufruhr, Stimmen. Eilig gehe ich weiter, und hinter der nächsten Biegung sehe ich den Grund für den Tumult.
Da stehen Lieferwagen. Viele Autos. Reporter. Ich sehe Kameras und Satellitenschüsseln oben auf den Wagen. Die Straße vor Kates Haus ist so gut wie blockiert.
Du liebe Güte, denke ich, sie haben sie gefunden! Und ich fange an zu rennen.
Aber ich irre mich.
Nichts haben sie gefunden. Kate und Guy geben eine Pressekonferenz vor der rot lackierten Haustür.
Guy spricht; er hat das Reden übernommen. Er teilt die Informationen aus, während Kate stumm neben ihm steht. Sie zieht dieses Gesicht. Gespenstisch. Als wäre auch sie verschwunden. Da ist kein Leben in ihren Augen, keine Bewegung, nicht mal ein Zucken in den Augenwinkeln. Ihr Gesicht ist vollkommen leer.
Ich halte mich im Hintergrund, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Aber Alexa entdeckt mich und wirft mir einen bitterbösen Blick zu. Sie ist erbost über meine Anwesenheit.
Guy redet und redet, aber ich kann kein Wort verstehen. Seine Lippen bewegen sich schnell, so als gebe er einen Live-Kommentar ab, und dabei gestikuliert er und zeigt in das Tal hinunter. So als könnten die Zuschauer aus seinen Hinweisen erraten, wo seine Tochter sich aufhält. Dann sieht er seine Frau an und verstummt mitten im Satz, unfähig, weiterzusprechen.
Etwas Schlimmeres habe ich nie gesehen.
Es ist schlimmer, als zu sehen, wie die Tierärztin einen misshandelten Hund einschläfert, denn in dem Fall ist es gnädiger, das arme Ding sterben zu lassen. Schlimmer als zu sehen, wie sich die Ehefrau meines Vaters vor meinen Augen die Pulsadern aufschnitt.
Nichts ist so schrecklich wie ein verschwundenes Kind. Nichts auf der Welt.
Er lässt sich durch die vollgepackten Regale treiben und versucht, so auszusehen wie einer, der sich nur ein bisschen umsieht, so wie jeder andere hier. Er schlägt einfach nur ein bisschen Zeit im Baumarkt tot. Er weiß nicht genau, ob es weniger verdächtig wäre, die benötigten Materialien hier zu kaufen oder im Baumarkt in Windermere.
Beide Läden haben ihre Vor- und Nachteile. Hier gibt es Videokameras. Dort gibt es neugierige, geschwätzige Verkäufer.
In einer Großstadt hätte er dieses Problem nicht. In Newcastle oder Liverpool würden sie sich einen Dreck dafür interessieren, wozu er so vielen Rollen Klarsichtfolie braucht.
Er macht einen Abstecher nach draußen und gibt vor, die verschieden großen Säcke mit Zierkies zu vergleichen, während er immer noch überlegt. Er möchte nicht zu viel Zeit an einem Ort verbringen, weil das den Leuten auffällt.
Außerdem hat er offensichtlich einen Fan.
Eine frustrierte Rothaarige in Jeansjacke und Stiefeln mit Pfennigabsatz schleicht ihm nun schon eine ganze Weile hinterher. Bis jetzt hat sie Natronlauge, Schimmelentferner und einen Viererpack Staubschutzdecken in ihren Einkaufswagen gelegt. Er vermutet, dass sie keins dieser Dinge wirklich braucht, und ist versucht, noch ein bisschen länger beim Kies stehen zu bleiben. Einfach nur, um zu sehen, wie sie einen Dreißig-Kilo-Sack stemmt.
Zurück im Laden beschließt er, seine Einkäufe auf beide Läden zu verteilen. Die Putzmittel
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