Die Schuld einer Mutter
und sie mir erzählte, er wolle mit ihr zusammen sein.«
»Mit ihr zusammen sein?«, wiederholt Joanne. »Wollte er sie als Freundin, oder wollte er mit ihr irgendwohin fahren?«
»Das wusste sie selbst nicht. Wir haben oft darüber geredet, aber wir waren uns nie sicher, wie er das genau meinte, ob sie seine Freundin sein sollte, oder was.«
Ron sagt: »Dann hast du diesen Mann also nie mit eigenen Augen gesehen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nie.«
Joanne notiert sich die Farbe des Autos und hebt den Kopf. »Was kannst du uns noch erzählen?«
»Nicht viel.«
»Gar nichts?«
Sally zuckt mit den Achseln.
»Ach, komm«, muntert Joanne sie auf. »Ich weiß doch, wie Mädchen sind … man redet über einfach alles. Über jedes kleine Detail, das mit Jungen zu tun hat.« Sally sieht ein wenig gekränkt aus, deswegen schiebt Joanne schnell hinterher: »Wenn man älter wird, ändert sich das kein bisschen, weißt du«, und dann wirft sie Miss Murray einen Blick zu. »Stimmt doch, oder?«
»Äh, oh ja«, antwortet Miss Murray erschreckt. »Über meinen Freund könnte ich stundenlang reden.«
Aber Sally beißt nicht an.
Sie starrt angestrengt auf ihre Oberschenkel. Ihr ganzer Körper ist versteift, und es ist fast, als hätte man sie unter Druck gesetzt, nichts zu verraten.
»Was ist denn los, Sally?«, fragt Joanne schließlich. »Hat Lucinda dir etwas über ihn verraten, das du uns nicht zu sagen traust?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
»Sicher?«, fragt Joanne, die langsam der Optimismus verlässt. Sie war sich so sicher, dass das Mädchen etwas weiß.
»Ganz sicher«, bestätigt Sally.
Ron rutscht auf seinem Sitz herum, und ohne nachzudenken streckt Joanne den Arm aus und tätschelt sein Knie. Bleib sitzen, soll die Geste ihm sagen.
»Sally«, sagt sie vorsichtig. »Weißt du noch, was ich dir vorhin gesagt habe? Du musst uns einfach alles erzählen, ansonsten können wir sie nicht finden. Du hilfst Lucinda kein bisschen weiter, indem du ihr Geheimnis für dich behältst. Nicht jetzt.«
Sally hebt den Kopf, und auf einmal fängt sie zu blinzeln an. Sie will Luft holen, sie will einatmen, aber es scheint, als wäre ihre Kehle verstopft.
Sie sieht Joanne ins Gesicht. Auf einmal schießen ihr die Tränen in die Augen, und es sprudelt nur so aus ihr heraus.
»Es hat mit ihrem Dad zu tun«, schluchzt sie. » Das ist ihr Geheimnis. Deswegen darf ich mit niemandem darüber reden.«
20
I ch bin wieder im Tierheim und versuche, den Kätzchen mit einer Pipette etwas Flüssigkeit einzuflößen, aber es ist vergeblich. Ich weiß, ich tue ihnen nur weh, und so langsam erreichen wir den Punkt, an dem es das Beste wäre, den Tierarzt zu rufen und ihrem Leid ein Ende zu machen. Ich bin wütend und traurig, aber ich versuche trotzdem, mich nicht über den alten Penner aufzuregen, der sie in diesem Zustand allein gelassen hat. Es würde mir den letzten Nerv rauben. Eine gute Nachricht gibt es immerhin: Wie sich herausstellt, kommt Banjo, der Staffie, gut mit Katzen aus. Das erhöht seine Vermittlungschancen. Selbst potenzielle Hundehalter, die keine Katzen besitzen, wollen sich keinen Hund ins Haus holen, der Katzen zum Fressen gernhat.
Der Summer geht los, was bedeutet, dass draußen im Warteraum jemand steht. Ich lasse die Kätzchen allein und gehe nach vorn. Ich kann ohnehin eine Pause gebrauchen, vielleicht sollte ich mir einen Tee kochen.
Im Wartebereich steht die verrückte Jackie Wagstaff.
Die Leute nennen sie »Mad Jackie«, weil sie dazu neigte, regelmäßig auf ihre Mitmenschen einzudreschen, besonders in der schlimmen Phase vor ein paar Jahren.
Damals hatte ihr Ehemann alle Ersparnisse verbrannt – er hatte sogar eine Hypothek auf das Eigenheim aufgenommen, von der Jackie nichts wusste – und die Familie finanziell ruiniert. Um sich aus der misslichen Lage zu befreien, war ihm die geniale Idee gekommen, das Haus zu verlosen. Es handelte sich um eine hübsche Immobilie im Wert von mindestens dreihunderttausend Pfund, und jeder im Dorf (auch ich und Joe) kaufte sich ein Los im Wert von fünfundzwanzig Pfund. Angeblich wurden fast achttausend Lose verkauft, nachdem die Anzeige in der Gazette erschienen war und Jackie überall im Dorf Werbezettel verteilt hatte, was einen Erlös von insgesamt zweihunderttausend Pfund bedeutete.
Und dann brannte Mad Jackies Ehemann mit dem Geld durch. Es war eine Katastrophe.
Auf einmal hatten es alle auf die arme Jackie
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