Die Schuld
verschwunden. Seine Mutter arbeitete als Sicherheitsbeamtin im Erdgeschoss eines großen Bürogebäudes in der New York Avenue. Die Polizei hatte drei Stunden benötigt, um den richtigen Namen - Ramón Pumphrey und die Adresse ihres Sohnes heraus zu bekommen und einen Nachbarn zu finden, der bereit war, den Beamten zu sagen, dass Ramón Pumphrey noch eine Mutter hatte.
Als die Polizisten an ihrem Arbeitsplatz eintrafen, saß Adelfa Pumphrey hinter einem Tisch und starrte unbeteiligt auf mehrere Monitore. Sie war groß, dick und trug eine eng sitzende Khakiuniform, an deren Gürtel eine Pistole baumelte. Ihre Miene wirkte völlig desinteressiert. Die Beamten hatten sich schon hunderte Male in einer solchen Situation befunden. Nachdem sie die schlechte Nachricht überbracht hatten, fragten sie nach ihrem Chef.
In einer Stadt, in der sich tagtäglich junge Menschen gegenseitig umbrachten, wurden die Menschen dickfellig und hartherzig. Jede Mutter kannte etliche andere Mütter, deren Kinder durch Gewaltverbrechen ums Leben gekommen waren, und jeder Verlust eines Menschenlebens ließ den Tod auch in der eigenen Familie einen Schritt näher rücken. Alle Mütter wussten, dass jeder Tag der letzte sein konnte. Aber sie hatten auch gesehen, wie andere Mütter die Tragödie überlebt hatten. Während Adelfa Pumphrey dasaß, das Gesicht in die Hände gebettet, dachte sie an ihren Sohn, an seinen leblosen Körper, der jetzt irgendwo in dieser Stadt lag und von Fremden untersucht wurde.
Sie schwor demjenigen Rache, der Ramón getötet hatte, wer immer es auch sein mochte.
Sie verfluchte seinen Vater, der das eigene Kind im Stich gelassen hatte.
Sie weinte.
Aber Adelfa Pumphrey wusste, dass sie überleben würde.
Irgendwie würde sie es schaffen.
Als die Vernehmung zur Anklage stattfand, war auch Adelfa Pumphrey anwesend. Die Polizisten hatten ihr erzählt, dies sei der erste Auftritt des Mörders ihres Sohnes vor dem Richter eine reine Routineangelegenheit, die schnell über die Bühne gehen werde. Der Häftling werde sich nicht schuldig bekennen und einen Anwalt verlangen. Eingerahmt von ihrem Bruder und einem Nachbarn, saß Adelfa weinend in der letzten Reihe des Gerichtssaals und tupfte sich mit einem durchnässten Taschentuch die Tränen ab. Sie wollte den Jungen endlich sehen. Sie wollte ihn fragen, warum er ihren Sohn umgebracht hatte. Aber sie machte sich keine Illusionen - diese Chance würde man ihr nicht geben.
Nacheinander wurden die Kriminellen durch den Raum getrieben wie Rinder bei einer Viehauktion. Es waren ausnahmslos junge Schwarze, alle in orangefarbenen Overalls und mit Handschellen. Und mit einem vergeudeten Leben.
Bei Tequila hatte man sich nicht mit Handschellen begnügt, sondern seine Handgelenke und Fußknöchel zusätzlich aneinander gekettet. Obwohl er ein besonders gewalttätiges Verbrechen begangen hatte, machte er einen ziemlich harmlosen Eindruck, als er mit der nächsten Gruppe von Gesetzesbrechern in den Gerichtssaal gebracht wurde. Mit einem raschen Blick über die Anwesenden suchte er nach irgendeinem bekannten Gesicht. Vielleicht hatte sich ja jemand seinetwegen in den Gerichtssaal bemüht. Als man ihn auf einen der Stühle drückte, ließ es sich einer der bewaffneten Gerichtsdiener nicht nehmen, Tequila auf Adelfa Pumphrey aufmerksam zu machen: »Da hinten sitzt die Mutter von dem Jungen, den du umgebracht hast. Die Frau in dem blauen Kleid.«
Mit gesenktem Kopf wandte sich Tequila langsam um. Er blickte Pumpkins Mutter in die verheulten, geröteten Augen, aber nur für einen winzigen Moment. Während Adelfa den dürren Jungen in dem viel zu großen Overall anstarrte, fragte sie sich, wo seine Mutter sein mochte, wie sie ihn großgezogen hatte, ob auch er ohne Vater aufgewachsen war und - am wichtigsten - wie und warum sich die Wege dieses Jungen und ihres Sohnes gekreuzt hatten. Die beiden waren im selben Alter wie die anderen Delinquenten hier - um die zwanzig. Die Polizeibeamten hatten ihr berichtet, bislang deute bei diesem Mord nichts darauf hin, dass Drogen im Spiel gewesen seien. Aber sie wusste es besser. Bei dem, was auf den Straßen passierte, waren auf die eine oder andere Weise immer Drogen im Spiel. Adelfa kannte sich aus. Auch Pumphrey hatte Marihuana und Crack konsumiert. Er war sogar einmal festgenommen worden, aber nur wegen Drogenbesitz. Gewalttätig war er nie gewesen. Die Polizisten sahen kein Motiv; ihrer Meinung nach hatte bei diesem Mord der Zufall Regie
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