Die Schuld
anboten und deren gefragteste Prozessführer eigene Agenten hatten. Das OPD spielte nicht annähernd in dieser Liga.
Einige Pflichtverteidiger vom OPD glaubten mit missionarischem Eifer daran, die Armen und Unterdrückten verteidigen zu müssen. Für sie war dieser Job kein Sprungbrett für eine aussichtsreichere Karriere an anderer Stelle. Ungeachtet des miserablen Gehalts und der mickrigen Budgets blühten sie förmlich auf, wenn sie daran dachten, dass ihre einsame Arbeit immerhin mit einer gewissen Unabhängigkeit verbunden war. Außerdem verschaffte es ihnen innere Befriedigung, ihre schützende Hand über die Underdogs zu halten.
Andere Pflichtverteidiger sahen diesen Job nur als Übergangslösung, als hartes Grundlagentraining, das für einen späteren Karrieresprung unabdingbar war. Wollte man die Stufen des gesellschaftlichen Erfolgs erklimmen, musste man diese harte Schule eben durchstehen und sich dabei auch die Hände schmutzig machen. Als Pflichtverteidiger machte man Erfahrungen, die einem Juristen aus einer großen Kanzlei verwehrt blieben. Eines Tages würde sich der Lohn dieser harten Fronarbeit schon einstellen, und zwar in Form einer lukrativen Offerte einer Kanzlei mit Perspektive. Eine unerschöpfliche, praktische Erfahrung mit Prozessen, das Wissen um den Umgang mit Richtern, Gerichtsschreibern und Polizisten, die Bewältigung härtester Arbeitsbelastung und der geschickte Umgang mit den schwierigsten Mandanten - dies waren nur einige der Pluspunkte, die ein Pflichtverteidiger bereits nach ein paar Jahren gesammelt hatte.
Beim OPD arbeiteten achtzig Anwälte, deren Büros in zwei Stockwerken des Gebäudes der Stadtverwaltung untergebracht waren, einem gesichtslosen Betonkasten an der Mass Avenue, ganz in der Nähe des Thomas Circle, der allgemein nur »Würfel« genannt wurde. Außer den Pflichtverteidigern waren im Gewirr der mikroskopisch kleinen Büros des OPD noch etwa vierzig schlecht bezahlte Sekretärinnen und drei Dutzend Anwaltsassistenten tätig. Chefin des OPD war eine Frau namens Glenda, die sich die meiste Zeit in ihrem Büro einschloss, weil sie sich dann in Sicherheit glaubte.
Das Anfangsgehalt eines Pflichtverteidigers betrug 36.000Dollar pro Jahr. Gehaltserhöhungen gab es nur in großen Abständen, und sie fielen immer minimal aus. Der älteste Anwalt - mit dreiundvierzig Jahren bereits völlig ausgepowert verdiente mittlerweile 57.800Dollar und drohte seit neunzehn Jahren mit Kündigung. Der Grund für die extreme Arbeitsbelastung lag darin, dass Washington den Kampf gegen das Verbrechen verlor. Seit acht Jahren beantragte Glenda zehn weitere Rechtsanwälte und ein Dutzend Anwaltsassistenten. Stattdessen wurde ihr das Budget seit vier Jahren im Vergleich zum Vorjahr immer weiter zusammengestrichen. Doch im Augenblick war ihr Problem, dass sie die unangenehme Entscheidung treffen musste, welche Anwaltsassistenten sie entlassen und welchen Rechtsanwälten sie eine Teilzeitstelle verordnen sollte.
Wie die meisten seiner Kollegen hatte auch Clay Carter während des Jurastudiums nicht im Traum daran gedacht, eines Tages als Pflichtverteidiger verarmter Krimineller sein Geld zu verdienen - nicht einmal übergangsweise. Während seiner Zeit am College und später an der juristischen Fakultät der Georgetown-Universität hatte Clays Vater eine eigene Anwaltskanzlei gehabt. Neben seinem Studium hatte Clay dort jahrelang in einem eigenen Büro stundenweise gearbeitet. Damals konnte er sich noch ausschweifenden Träumen hingeben, in denen er gemeinsam mit seinem Vater finanziell lukrative Prozesse führte.
Doch als Clay im letzten Studiumsjahr war, musste sein Vater die Kanzlei dichtmachen. Anschließend verließ er Washington aber das war eine andere Geschichte. Clay wurde Pflichtverteidiger, weil er kurzfristig keine andere Stelle ergattern konnte.
An seinem neuen Arbeitsplatz musste er drei Jahre lang taktieren und alles in Bewegung setzen, um ein eigenes Büro zu bekommen, in dem er nicht ständig von einem Kollegen oder einem Anwaltsassistenten gestört wurde. Leider war der fensterlose Raum nur so groß wie die Abstellkammer einer bescheidenen Vorortwohnung, und schon der Schreibtisch nahm die Hälfte der Fläche ein. Sein Büro in der Kanzlei seines Vaters war viermal so groß gewesen und hatte Fenster auf das Washington Monument gehabt. Clay versuchte, diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu löschen, doch sie drängten sich ihm immer wieder auf. Mittlerweile waren fünf
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