Die Schuldlosen (German Edition)
er sich, setzte lieber auf den Montagmorgen. Silvie ließ ihn frühmorgens an der S-Bahn-Station nur aussteigen, fuhr gleich wieder zurück nach Garsdorf. Da sollte sich wohl die Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen finden lassen. Müsste er halt eine spätere Bahn nehmen, bei seiner Gleitzeit war das kein Problem.
Aber auch montags bemühte Lothar sich vergebens. Im Kaffeebüdchen werkelte noch die Vertretung. Und die wusste nicht, ob Heike dienstags wieder arbeiten konnte.
«Sie hat eine Fischvergiftung», teilte sie Lothar mit.
Silvie hörte in etwa dasselbe, als sie vormittags ihr Glück versuchte. Wobei es ihr vordringlich wirklich nicht darum ging, Alex als Opfer eines Justizirrtums von jeder Schuld reinzuwaschen. Wenn er selbst denn gar kein Opfer sein wollte, war es für seinen Seelenfrieden vielleicht sogar besser, ihn in der Überzeugung seiner Schuld zu lassen. Sie wollte nur ein gutes Wort einlegen für einen Vater, der sein Kind abgöttisch liebte.
Für Alex war das Wochenende trostlos gewesen. Samstags hatte er sich mit Einkäufen abgelenkt, war nach Köln gefahren, weil dort nicht die Gefahr bestand, dass ihn jemand schief von der Seite ansah. Tausend Kleinigkeiten hatte er erstanden, die kein Mensch wirklich brauchte, mit denen man einem siebenjährigen Mädchen aber viel Freude machen konnte.
Sonntags hatte er sich noch einmal auf das Putzzeug gestürzt und zwei weitere Räume im Obergeschoss auf Hochglanz gebracht. Und bei jedem Handgriff hatte er sich ausgemalt, wie er am Montagmorgen beim großen Friedhofstor stand und auf seine Süße wartete. Ohne Auto, wenn sie zu Fuß gingen, hätte er länger etwas von ihr.
Als er losging, rechnete er nicht wirklich damit, Saskia noch einmal auf Schleichwegen durch den alten Ortskern führen zu dürfen. Er war absolut sicher, dass Gerhild, Wolfgang, der alte Jentsch oder sonst wer die Kleine zur Schule fahren würde.
Aber sie kam. Allein. Strahlte ihm entgegen, als sie ihn entdeckte, beschleunigte ihre Schritte und begrüßte ihn mit der frohen Botschaft: «Heike hat gesagt, du darfst mich zur Schule bringen, wenn es dir Spaß macht. Du darfst mich auch wieder abholen. Und wenn du nachmittags die Hausaufgaben mit mir machen willst, ist das überhaupt kein Problem. Ich darf bei dir nur kein Eis mehr essen, höchstens Obst, hat Heike gesagt.»
«Wow», sagte er überwältigt und bemüht, die unvermittelt aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. «Das klingt doch sehr vernünftig, findest du nicht? Es gibt tolle Obstsorten, ich kenne Sachen, die schmecken fast genauso gut wie Eis.»
«Ehrlich?» Überzeugt davon schien sie nicht, aber es war ihr wohl nicht wichtig genug, um das Thema zu vertiefen. Sie schaute sich suchend um. «Wo ist denn dein Auto?»
«Wir gehen zu Fuß», sagte er. «Frische Luft ist genauso gesund wie Obst. Wenn man sich viel bewegt, darf man sich sogar hin und wieder ein kleines Eis zur Belohnung gönnen.»
«Ehrlich?», fragte sie noch einmal, griff nach seiner Hand und ließ sich bereitwillig zurück zur Kirche führen, um über den Friedhof in den alten Ortskern zu gelangen. Das breite Rolltor an der Zufahrt zur Aussegnungshalle war geschlossen.
Sie erzählte vom Freitag, wie Tante Gerhild sie ausgefragt und zur Polizei gefahren hatte. Da hatte sie dann alles noch einmal erzählen müssen. Die Polizisten waren aber sehr nett gewesen. Und samstags war Heike gekommen und hatte es auch noch mal hören wollen. «Ich hab aber nur gesagt, dass ich nicht mit der Frau rede, die mich geklaut hat. Und dass du ganz traurig warst und viel geweint hast.»
«Ah ja», sagte er. «Und dann hat Heike beschlossen, dass ich dich regelmäßig sehen darf?»
«Nein, erst ist sie wieder gegangen. Gestern hat sie angerufen. Oma wollte, dass sie uns besucht. Das ging aber nicht. Heike hat in Holland einen falschen Hering gegessen und ist krank.»
«Ah ja», wiederholte er, weil ihm sonst nichts dazu einfiel und er ihr lieber zuhörte. Manchmal hüpfte sie ein paar Schritte und plapperte weiter mit ihrem munteren, eifrigen Stimmchen. Ließ ein wenig Unmut und Unverständnis heraus, weil Gerhild ihr verboten hatte, den Polizisten zu erzählen, dass Heike sie aus einem Brutkasten gestohlen hatte, und weil Heike absolut keine Dankbarkeit zeigte, wo er doch auf eine Anzeige wegen Babyklau verzichtete.
Als sie sich dem Schulgelände näherten, hielt sie Ausschau nach Frau Sattler. Die Lehrerin war nicht zu sehen. Doch es gab genügend
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