Die Schuldlosen (German Edition)
andere Zuschauer. Vor dem Törchen im Jägerzaun angekommen, verlangte sie: «Bück dich mal, sonst kann ich dir doch kein Küsschen geben.»
Er ging vor ihr in die Hocke, umfing sie mit beiden Armen, ließ sich auf die Wange küssen und schmunzelte, als er feststellte, wie sehr sie es genoss, dabei von ein paar Mädchen ihres Alters beobachtet zu werden. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er laut: «Bis heute Mittag, Schatz. Du kannst ja während der Pause überlegen, was du heute Nachmittag Tolles unternehmen möchtest.»
Zurück lief er wieder durchs Margarineviertel. Ihm kam jedoch nicht der Gedanke, bei Silvie zu klingeln und ihr mitzuteilen, es sei alles in Ordnung, sogar in bester Ordnung, Heike lege ihm keine Steine in den Weg zu seinem Kind. An Silvie dachte er gar nicht, sonst wäre wohl alles ganz anders gekommen. Aber er hatte den Kopf so voll mit Dingen, die er unbedingt besorgen musste – zum Beispiel Obst –, da war kein Platz mehr für etwas anderes. Nur Heike kam ihm kurz in den Sinn, als er in den Fußweg einbog, der weiter hinten in die Breitegasse mündete.
An einem der nächsten Tage wollte er mal im Kaffeebüdchen frühstücken, zwischen neun und zehn, wenn die Berufspendler durch waren und man etwas Ruhe fand für eine Unterhaltung. Das musste nicht gleich heute sein, auch nicht morgen.
Mittags wartete er mit dem alten Mercedes bei der Schule. Um Saskia für die Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag abzuholen, fuhr er um halb drei sogar bei der Bäckerei vor und brachte sie um sechs Uhr auch wieder zurück bis vor die Haustür. Dienstags war es nicht anders.
An dem Dienstag probierte Silvie es gegen halb elf erneut, ihren Hasemann ausnahmsweise noch mal auf dem Arm, vielmehr auf der linken Hüfte. Weil sie nicht ernsthaft damit rechnete, Heike anzutreffen, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, den alten Buggy ins Auto zu laden. Aber diesmal hatte sie Glück, wenn man es denn so nennen will.
Heike war allein und damit beschäftigt, Tabletts zu spülen, auf denen mittags die zweite Lieferung Brötchen und das Kleingebäck arrangiert werden sollten. Leicht vorgebeugt, als hätte sie Bauchschmerzen, stand sie vor dem großen Spülbecken, drehte sich um, als sie die Tür hörte, und schaute Silvie mit ausdrucksloser Miene entgegen.
Silvie ersparte sich die üblichen Floskeln, sagte nur knapp «Hallo», bestellte für sich einen Milchkaffee und für David ein Milchbrötchen, brachte ihr Anliegen ohne Umschweife vor und begriff schon nach wenigen Sekunden, dass Alex keine Fürsprecherin mehr brauchte.
«Gerhild sieht das ein bisschen anders als ich», sagte Heike. «Ich finde, es hat nur Vorteile, wenn Alex sich um Saskia kümmert. Sie muss ja nicht gleich bei ihm einziehen. Aber wenn er sie morgens zur Schule bringt und mittags wieder abholt, muss ich mir keine Sorgen mehr machen, dass sie auf der Pützerstraße angefahren wird.»
Silvie bezweifelte, dass Heike bisher einen Gedanken an Saskias Schulweg verschwendet hatte, von Sorgen ganz zu schweigen. Aber man musste wissen, wann man sich den passenden Kommentar zu verkneifen hatte, um eine Mission nicht zu gefährden. «Finde ich super, deine Einstellung», sagte sie. «Alex wird bestimmt gut aufpassen und sein Bestes geben. Hat er früher ja auch getan.»
Heike nickte. Und Silvie hätte theoretisch ihren Milchkaffee austrinken, bezahlen und sich verabschieden können. Aber Heike sah so fahl aus, richtig ausgezehrt, und dazu diese krumme Haltung, da konnte Silvie sich die Feststellung nicht verkneifen: «Ich hab gehört, du warst übers Wochenende in Holland. Besonders erholsam war es aber wohl nicht.»
«Wahrhaftig nicht», stimmte Heike zu. «Ich wäre besser zu Hause geblieben und hätte mir einen gemütlichen Sonntag auf der Couch gemacht.»
«Wo genau warst du denn?», fragte Silvie.
«Zuid-Beveland», sagte Heike.
Zwei junge Mädchen kamen herein, Heike wandte sich ihnen zu, bediente und kassierte, während Silvie einen aussichtslosen Kampf gegen ihre Neugier führte. Nachdem die Mädchen wieder draußen waren, begann sie: «Es geht mich zwar nichts an, aber warst du nicht damals auch in der Gegend? Du weißt schon, nach dem Prozess, als du die Fehlgeburt …»
«Du hast recht», schnitt Heike ihr das Wort ab. «Es geht dich überhaupt nichts an. Und wenn du sonst nichts mehr auf dem Herzen hast, wäre ich dir dankbar, wenn du austrinkst, bezahlst und gehst. Ich muss nämlich dringend mal aufs Klo.»
«Eine Kleinigkeit
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