Die Schuldlosen (German Edition)
macht sich nicht strafbar, wenn er sie auf dem Schulweg begleitet und nachmittags bei sich zu Hause bewirtet», brachte Gerhild die Argumente vor, mit denen Bernd Leunen sie in die Schranken verwiesen hatte. «Solange sie freiwillig und auch noch gerne mit ihm geht, ist das für die Polizei in Ordnung.»
Heike seufzte: «Für mich auch. Lassen wir ihn das doch tun, wenn’s ihm Spaß macht.»
«Mir geht’s mehr um den Spaß, den es Saskia macht», erklärte Gerhild. «Du hast sie doch gerade gehört. Willst du das Kind vollkommen unter seinen Einfluss geraten lassen?»
«Was ist denn schlimm, wenn er sich kümmert?», fragte Heike. «Früher hat er das doch ganz gut gemacht.»
«Früher», wiederholte Gerhild. «Jetzt kommt er frisch aus dem Knast. Und ich möchte nicht wissen, welchen Einflüssen er dort ausgesetzt war. Herrgott, was ist denn los mit dir?»
Das konnte Heike ihr nicht erklären. Sie verstand es selbst noch nicht so recht. Nach all den ausgestandenen Ängsten und Schreckensszenarien, die sie sich zu Beginn der Woche ausgemalt hatte, war sie nach Gerhilds Anruf irgendwie erleichtert gewesen. Allerdings hatte das nicht lange vorgehalten. Nun fühlte sie sich ausgelaugt und traurig.
Vielleicht war es zu viel Stress gewesen in den letzten Wochen. Vielleicht war es die erneute Hormonumstellung. Oder der Blutverlust und die damit verbundene Schwäche. Vielleicht war es aber auch die Gewissheit, dass sie nicht lange fackelte und Leben vernichtete, wenn es um ihren Vorteil ging. Schon das dritte Leben, wenn man es genau nahm.
Erst Alex, dem sie mit ihrer Aussage die Chance auf ein Leben nach seinen Vorstellungen genommen hatte. Dann der kleine Junge, den sie sich nach dem Urteilsspruch gegen seinen Vater nicht mehr hatte leisten können. Jetzt die leidige Panne mit einem Gelegenheitsliebhaber.
Was die Ärztin in Goes ihr aus dem Leib gesaugt und geschabt hatte, wusste sie nicht. Um das Geschlecht festzustellen, war es noch zu früh gewesen. Die siebte Woche, nicht die sechsundzwanzigste wie damals. Ihren Sohn – Alex’ Sohn – hatte sie zuvor mehrfach mittels Ultraschall gesehen, seine Händchen, den Kopf, die Wirbelsäule, das schlagende Herz. Er hatte ungefähr achthundert Gramm gewogen, war etwa fünfunddreißig Zentimeter groß gewesen. Durchaus lebensfähig, wie Silvies Hasemann bewies. Und sie hatte ihm das Recht auf Leben abgesprochen, weil sein Vater nicht mehr da war, sich um ihn zu kümmern.
Und wie oft hatte sie anschließend bereut, Alex ans Messer geliefert zu haben, nur um nicht selbst in die Bredouille zu geraten. «Das wird dir noch leidtun!» Ja, das hatte es. Mehr als einmal. Kurz vor der Urteilsverkündung so sehr, dass sie nahe daran gewesen war, ihre Aussage zurückzunehmen.
Vielleicht wären sie beide mit dem Schrecken davongekommen, wenn sie länger durchgehalten oder an ihn geglaubt hätte. Nicht etwa an seine Unschuld, nur an seine Treue. Vielleicht wären sie heute noch ein Paar, glücklich und zufrieden miteinander. Es waren ein paar gute Jahre gewesen mit ihm, genau genommen die schönsten, die sie bisher erlebt hatte.
«Ich bin nur müde von der langen Fahrt und noch etwas mitgenommen von den Matjes, die ich mir nach der Ankunft gegönnt habe», log sie. «Eigentlich hätte ich heute noch gar nicht fahren dürfen. Mit einer Fischvergiftung ist nicht zu spaßen.»
«Dann fahr nach Hause und kurier dich aus», riet Gerhild. «Wir reden noch mal, wenn du dich besser fühlst. Oder soll ich dich fahren? Dein Auto kann ich dir morgen bringen, du müsstest mich dann nur zurückfahren.»
Und mich von Mama in die Mangel nehmen lassen , dachte Heike und sagte: «Vier Kilometer schaffe ich schon noch. Es reicht, wenn du mir mit einem Brot aus der Klemme hilfst. Wenn mein Magen sich erst wieder beruhigt, habe ich garantiert Hunger wie ein Wolf, aber nichts Essbares in der Wohnung.»
Als sie mit einem halben Oberländer und einem Weißbrot ins Auto stieg, überlegte sie, noch einen Abstecher zur Villa Schopf zu machen, ehe sie zum Discounter fuhr. Mit Alex zu reden, ihm zu versichern, dass sie nichts dagegen hatte, wenn er Zeit mit Saskia verbrachte. Wenn er denn mehr nicht wollte, wäre es die beste Lösung gewesen.
Und wer weiß, vielleicht könnten sie sich irgendwann über die gemeinsame Tochter wieder näherkommen. Nicht heute, nicht morgen, aber in einigen Monaten oder einem Jahr. Vielleicht hatte sie in den letzten Jahren keine neue feste Beziehung eingehen mögen,
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