Die Schuldlosen (German Edition)
verwundert, nachdem sie erfahren hatte, dass sie schwanger war. «Ich weiß nicht, wie es passiert ist, wo ich doch die Pille nehme. Aber ich kriege ein Kind. Könnt ihr euch das vorstellen?»
Nein, niemand hatte sich das vorstellen können. Heike mit einem Korb Brötchen oder einem Tablett voller Hefeteilchen. Aber nicht mit einem Baby. Und gewiss nicht mit einem Kind von Alex. Das hatten sie ihr auch gesagt, alle, Gerhild war da keine Ausnahme gewesen. «Du wirst ja wohl nicht so blöd sein und es wirklich bekommen. Bis jetzt hat es funktioniert mit euch beiden, weil Alex keine Verantwortung tragen musste. Mit einem Kind sieht das anders aus. Was machst du, wenn er die Kurve kratzt? Dann stehst du dumm da.»
Er hatte die Kurve nicht gekratzt, im Gegenteil. Und dann war da dieser Abend gewesen, am Tag vor der Urteilsverkündung. Heike war gekommen, um … ja, warum eigentlich? Um nach ihrer Tochter zu sehen, die seit der Festnahme ihres Vaters in Garsdorf lebte? Oder weil sie auf Beistand hoffte, auf Verständnis, einen Rat oder Zuspruch?
«Ich frage mich», hatte sie gesagt, «was passiert, wenn ich morgen meine Aussage widerrufe. Ich könnte erklären, die Polizei hätte mich so unter Druck gesetzt, dass ich …»
«Du hast ja wohl nicht alle Tassen im Schrank!», war Martha ihr grob in die Parade gefahren. «Untersteh dich, das Gericht zu belügen, nur damit dieser läufige Hund auf freien Fuß kommt.»
«Zum einen wäre es nicht gelogen, Mama», hatte Heike gesagt. «Du hast keine Ahnung, wie die mir zugesetzt haben. Zum anderen ist Alex kein Hund, läufig schon gar nicht. Wenn ich nicht von ihm verlangt hätte, sich von Albert auszahlen zu lassen, wäre er an dem Abend garantiert sofort nach Hause gekommen. Dann wäre nichts passiert.»
«Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, dann wär mein Vater Millionär», hatte Martha gekontert und gefragt: «Willst du an seiner Stelle in den Knast?»
«Mir graut bei der Vorstellung», hatte Heike erwidert. «Aber es wäre eine Alternative und vielleicht nicht mal die schlechteste Lösung. Ich bekäme wahrscheinlich mildernde Umstände wegen der Schwangerschaft. Das Büdchen könnte ich so lange verpachten. Alex käme auch mit zwei Kindern zurecht, da bin ich sicher. Albert muss weiter für ihn zahlen. Und wenn er die Wohnung aufgibt und wieder in die Villa zieht, spart er die Miete.»
«Du bist wirklich nicht mehr bei Trost», hatte Martha sich weiter ereifert. «Sollen sich alle die Mäuler über dich zerreißen? Wer, glaubst du, wird sein Brot noch bei uns kaufen, wenn du für einen Mord verurteilt wirst?»
«Ach, Mama», hatte Heike geseufzt, «das war doch kein Mord. Janice hat so viel Unfrieden gestiftet, die hat bloß bekommen, was sie verdiente. Es traut sich nur keiner, das offen auszusprechen.»
«Dann wird es höchste Zeit, etwas anderes offen auszusprechen», hatte Martha daraufhin erwidert. «Nämlich dass Alex fast jeden Abend mit Janice in der Laube war. Ich weiß das von Frau Heckler. Bei seiner Mutter hat er sich nur selten länger als eine Viertelstunde aufgehalten. Die war doch die halbe Zeit nicht bei sich. Er hat sich lieber mit Janice amüsiert, konnte die Finger nie von ihr lassen. Frau Heckler hat mir unter Tränen anvertraut, dass sie und ihr Mann überzeugt waren, er hätte Janice bald geheiratet, versprochen hatte er das jedenfalls. Er hätte dich schon vor Monaten sitzenlassen, weil du ihm zu alt bist, sagte Frau Heckler. Aber dann warst du plötzlich wieder schwanger. Zu Janice hat er gesagt, du hättest ihn zum zweiten Mal aufs Kreuz gelegt.»
Heike war blass geworden und hatte schlucken müssen, ehe sie widersprechen konnte: «Das ist nicht wahr.»
«Nicht? Warum hast du die Laube denn kontrolliert? Du musst doch was geahnt haben.»
Das widerliche Schrillen der billigen Türklingel machte der Hetzjagd hinter Gerhilds Stirn ein Ende, riss sie aus der Starre und schüttelte sie für ein paar Sekunden durch. Dann schnappte sie den Hörer der antiquierten Gegensprechanlage und sagte: «Zehnter Stock, unten ist offen.»
Der Aufzug war zwischenzeitlich in ein tieferes Stockwerk gerufen worden und setzte sich erneut in Bewegung. Als sie die Wohnungstür öffnete, hörte sie es im Schacht rumpeln. Kurz darauf leuchtete der viereckige Knopf auf.
Hinter einer der anderen Wohnungstüren verlangte eine Frau energisch: «Schmier dir nicht wieder so viel von dem Zeug in die Haare.» Irgendwo auf der Etage lief orientalisch anmutende Musik.
Weitere Kostenlose Bücher