Die Schuldlosen (German Edition)
konnte.
Inzwischen wusste Wolfgang, was in letzter Zeit bei seiner Schwester los gewesen war. Dass sich jemand an ihrem Auto zu schaffen gemacht hatte, dass jemand in ihre Wohnung eingedrungen war und einen Rosenstrauß geköpft hatte. Und dass die Ersatzschlüssel aus dem Schubfach mit den Bürosachen verschwunden waren. Gerhild hatte ihm davon erzählt und auch erwähnt, dass Heike sich wegen des Autos vergebens zur Wache bemüht und wie diese Anwältin aus Köln sich zu den Vorfällen geäußert hatte.
Von Alex’ Auftritt beim Kaffeebüdchen am Dienstagnachmittag hatte Wolfgang nach dem gestrigen Mittagessen erfahren. Heike hatte es bei Gerhild einen tätlichen Angriff vor Zeugen genannt. Und nicht verschwiegen, dass Alex ihr einen weiteren Überfall zu einem günstigeren Zeitpunkt, also ohne Zeugen, angekündigt hatte. Verständlicherweise machte Heikes Bruder sich deshalb Sorgen, als sein zweiter Versuch am Telefon zum selben Ergebnis führte wie der erste.
Wolfgang ging hinüber in die Küche. Gerhild trank im Stehen am Küchentisch einen Kaffee und wollte danach zu ihrer Auslieferungstour durchs Dorf aufbrechen.
«Bei Heike stimmt was nicht», sagte Wolfgang.
Wenige Minuten später war Gerhild mit den Notfallschlüsseln auf dem Weg nach Grevingen. Sie fuhr langsam und mit Fernlicht, weil die Möglichkeit bestand, dass Heike unterwegs verunglückt war und der Honda in einem Acker lag. Aber auf der Strecke bemerkte Gerhild nichts Ungewöhnliches.
Ziemlich genau um halb sechs erreichte sie die Hochhäuser an der Ludwig-Uhland-Straße. Sie entdeckte eine Parklücke vor dem mittleren, die für einen Kombi zu klein war, steuerte trotzdem hinein. Das Heck ragte in die Straße, das kümmerte Gerhild in dem Moment wenig. Sie schaltete den Warnblinker ein, sprang aus dem Auto und hetzte zur Haustür. Die ließ sich wieder mal einfach aufdrücken. Auf den Aufzug musste Gerhild ein Weilchen warten, es hörte sich an, als käme der von ganz oben.
Sie war erst einmal in der Wohnung ihrer Schwägerin gewesen, aber die Lage und die Aufteilung der Räume war ihr noch im Gedächtnis. Von dem fehlenden Lichtschalter neben dem Aufzug wusste sie nichts. Als sie im zehnten Stock ausstieg, tastete sie vergebens an der Wand herauf und herunter, ehe sie die paar Schritte zu der Tür gegenüber tat.
Dort erwischte sie statt des Lichtschalters erst mal die Klingel. In der Wohnung schrillte vernehmlich und anhaltend ein hässlicher Ton, ohne dass jemand darauf reagierte. Auch in den Nachbarwohnungen rührte sich nichts, obwohl Gerhild meinte, das widerliche Schrillen müsste man auf der gesamten Etage hören.
Hastig zog sie ihre Hand zurück und drückte auf den oberen der beiden weißen Schalter. Endlich wurde es hell. Sie steckte den Schlüssel ein, abgeschlossen war nicht, schon nach einer halben Umdrehung schwang die Tür auf.
Gerhild spürte eine Welle von Übelkeit durch den noch leeren Magen schwappen und hielt unwillkürlich die Luft an, ehe sie sich bemühte, ruhig und tief durchzuatmen. Nach dem Angriff beim Büdchen hätte Heike ihre Tür garantiert abgeschlossen. Und wo sie so überzeugt gewesen war, dass Alex – mit welchem Trick auch immer – die Ersatzschlüssel aus dem Büroschubfach an sich gebracht hatte, hätte sie auch die alte Sperrkette vorgelegt, das war für Gerhild so sicher wie das Amen in der Kirche.
In der Wohnung war es dunkel. Gerhild tastete nach dem Lichtschalter in der Diele. Unter der Decke flammten drei Halogen-Spots auf. «Heike!», rief sie gedämpft, während sie die Wohnungstür hinter sich zudrückte.
Von den vier Zimmertüren standen drei offen – Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Die Spots in der kleinen Diele erhellten nur die vorderen Bereiche der drei Räume. Wie es weiter hinten aussah, war nicht zu erkennen. Gerhild ging hin, schaltete überall das Licht ein und fühlte, wie ihr Magen sich wieder beruhigte.
Nichts deutete darauf hin, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte. Die schlauchförmige Küche war sauber und aufgeräumt, es stand nicht mal ein benutzter Kaffeebecher oder ein Glas offen herum. Im Wohnzimmer war es genauso, nur wirkte es hier nackt und trist, jedenfalls nicht gemütlich.
Die Bettdecke im Schlafzimmer war zurückgeschlagen, zum Auslüften, vermutete Gerhild, sie handhabte das ebenso. Gemachte Betten wie bei ihren Eltern – Kissen und Decken auf den Laken glatt streichen und die Tagesdecke drüber, damit der Mief drinblieb und die Milben ein
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