Die Schuldlosen (German Edition)
Versteck für einen Eindringling wäre die Wanne wirklich bestens geeignet gewesen.
Und dann hielt Gerhild erneut die Luft an, ohne sich dessen bewusst zu werden, und drückte reflexartig die Tür zu, um die Wanne in ihrer gesamten Länge einsehen zu können.
Da lag Heike, nackt, mit Kopf und Rücken auf dem Wannenboden, das Gesicht zur Wand gedreht, die Arme über Kreuz auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, das Knie angelehnt. Das andere Bein war ausgestreckt, der Fuß bis zur Ablage mit Duschgel, Badesalz und Shampoo hochgeschoben. Die kurzgeschnittenen dunkelblonden Haare klebten platt und strähnig am Schädel und sahen im Gegensatz zu ihrer Haut feucht aus. Als hätte sie den Kopf noch unter die Brause gehalten, sich die Haare aber nicht mehr gewaschen.
Es war kein schrecklicher oder scheußlicher Anblick. Im Schein einer Fünf-Watt-Energiesparleuchte konnte Gerhild außer einer Schramme über dem linken Ohr keine Verletzungen entdecken. Es gab auch nirgendwo eine Spur von Blut, nicht den kleinsten Spritzer.
«Heike», flüsterte sie und berührte zaghaft das angelehnte Knie. Das war kalt. Kein Wunder, Heike musste seit Stunden so liegen, lange genug, um jedes Wassertröpfchen von ihrer Haut, den Wandfliesen und Wannenrändern verdunsten zu lassen. Sogar der Duschvorhang war getrocknet.
Statt nach dem Puls an einem der Handgelenke zu tasten, beugte Gerhild sich über den Wannenrand und fasste unter das Kinn ihrer Schwägerin, um den Kopf, der auf der rechten Seite lag, nach links zu drehen, was gar nicht so einfach war. Es gelang ihr nur zum Teil. Als Heike mit dem Hinterkopf auf dem Wannenboden lag, schaute Gerhild in das Gesicht einer Toten. Die Augen blickten starr, der Unterkiefer war erschlafft, die Lippen nicht geschlossen.
Gerhild schoss förmlich in die Höhe, taumelte zurück gegen die Waschmaschine, riss die Tür auf, hetzte in die Diele und drehte sich dort panisch drei-, viermal um, als hielte sie Ausschau nach einem Angreifer, ehe sie ihr Handy zückte und als Erstes ihren Mann informierte mit dem lapidaren Satz: «Sie liegt in der Wanne.»
«Um die Zeit?», wunderte sich Wolfgang. «Dann soll sie mal zusehen, dass sie in die Gänge kommt.»
Das hörte Gerhild schon nicht mehr. Sie hatte die Verbindung sofort wieder getrennt und 110 gewählt.
Bis zum Eintreffen des ersten Streifenwagens stand Gerhild aufrecht wie ein Pfahl in der kleinen Diele und befürchtete, jeden Augenblick zusammenzubrechen. Sie hätte sich gerne hingesetzt. Aber sie wagte es nicht, etwas anzufassen. Auch wenn sie höchst selten mal einen Fernsehkrimi anschaute, das hatte sie verinnerlicht. Man durfte nichts anfassen.
Ihr Kopf fühlte sich seltsam hohl an, dabei jagten die Gedanken hinter ihrer Stirn wie eine Horde Indianer über die Prärie. Sie sah ihre Schwiegermutter mit Heike am großen Küchentisch sitzen. Ein Samstagnachmittag war es gewesen, Heike war gekommen, um die wöchentliche Lieferung zu bezahlen. Und Martha hackte auf ihr herum, weil Alex bei ihr eingezogen war. Was Heike bis dahin wohlweislich verschwiegen hatte. Aber nachdem Silvie ihn bei der Arbeit im Kaffeebüdchen erlebt und von Lothar gehört hatte, wo Alex neuerdings wohnte … Silvie hatte es selbstredend sofort ihrer Oma erzählt, und Franziska hatte ihre jüngste Schwester eingeweiht.
«Dass du es so nötig hast, hätte ich nicht von dir gedacht», hatte Martha gezetert. «Warum suchst du dir nicht einen vernünftigen Mann? Du bildest dir hoffentlich nicht ein, nur weil der Knilch jetzt bei dir wohnt, würde er seine Finger von der Dorfmatratze lassen.»
«Wenn er es nicht tut, werfe ich ihn wieder raus, Mama. So einfach ist das. Aber ich glaube nicht, dass er Janice noch mal anfasst. Dafür ist ihm unsere Beziehung zu wichtig.»
«Beziehung!» Martha war aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr rausgekommen. «Das klingt ja fast, als hättest du ernste Absichten mit dem. Willst du ihn etwa heiraten?»
«Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, Mama. So lange sind wir ja noch nicht zusammen. Aber Alex ist nicht so, wie alle denken. Das habe ich bereits festgestellt. Er ist in Ordnung.»
«Ja, ja, das hat Silvie auch jedes Mal gesagt, wenn Franziska sich bemüht hat, sie zur Vernunft zu bringen.»
«Ich bin nicht Silvie, Mama.»
«Weiß Gott nicht! Du bist zehn Jahre älter und vierzig Kilo schwerer. Und du hältst dich für eine vernünftige Frau. Dass ich nicht lache.»
Gerhild sah Heike mit Anfang dreißig, so ungläubig und
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