Die Schuldlosen (German Edition)
in der offenen Tür der Backstube erschien. Wolfgang sah aus wie immer, ein Gespenst mit Kopftuch. Er mochte keine Mützen oder Hauben, bändigte seine dichte Mähne wie ein Pirat unter einem kecken Dreieckstuch und schaffte es immer, sich das verschwitzte Gesicht mit Mehl zu verschmieren.
«Kommst du heute doch noch mal wieder», begrüßte er sie. «Ich dachte schon, ich müsste eine Vermisstenmeldung aufgeben. Wo bleibt Heike denn? Macht sie heute ihre Bude nicht auf?»
«Nein», sagte Gerhild. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Wortlaut ihres Anrufs und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er keine Ahnung hatte, dass noch niemand hier wusste, was geschehen war.
«Sie macht nie mehr auf», sagte sie. «Heike ist tot.»
Wolfgang starrte sie an, als hätte er nicht verstanden, schüttelte voller Abwehr den Kopf und wiederholte: «Tot?» Dann wurde er laut: «Und warum erzählst du mir, sie läge in der Wanne?»
«Da habe ich sie gefunden», sagte Gerhild. «Der Polizist meinte, es wäre ein Unfall gewesen.»
«Unfall», wiederholte Wolfgang immer noch kopfschüttelnd. Das Mehl auf seiner Haut verhinderte, dass die plötzliche Blässe zutage trat. Er drehte sich leicht schwankend um und ging zurück in die Backstube. «Papa!», hörte Gerhild ihn rufen. «Komm mal her, Papa. Ich muss dir was sagen. Aber setz dich erst. Es ist …»
Es war noch nicht mal sieben, auch wenn es Gerhild so vorkam, als sei der Tag viel älter. Vorne im Laden rüstete Martha sich für den Ansturm der Schüler, die den ersten Bus nahmen. Eine der Aushilfen stand Martha zur Seite, die andere war noch in Vertretung für Gerhild im Dorf unterwegs, um Brötchen auszuliefern. Die Kinder saßen allein in der Küche. Die beiden Jungs teilten sich die Aufgaben der Großmutter. Max bestrich eine Brötchenhälfte für Saskia. Sascha schnitt einen Apfel in vier Stücke und legte zwei in die Pausendose, die anderen aß er selbst.
Gerhild setzte sich zu ihrer Nichte auf die Eckbank, zog das Kind in ihre Arme und sagte: «Ich muss dir etwas Trauriges sagen. Deine Mama ist gestorben.»
Max und Sascha verhielten mitten in ihren Bewegungen, beide gleichermaßen erschreckt oder entsetzt. Saskia dagegen widersprach aufsässig: «Ich hab keine Mama. Ich hab nur einen Papa, der mich sehr lieb hat. Heike hat mich aus dem …»
«Hör endlich auf mit dem Blödsinn», wurde Gerhild unvermittelt so laut, dass Saskia zusammenzuckte und von ihr abrückte. «Ich kann das nicht mehr hören. Das war ein Märchen, nur ein Märchen für kleine Kinder, die es noch nicht besser verstehen können. Du bist zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen und musstest deshalb in den Brutkasten. Vorher warst du in Heikes Bauch.»
«Igitt.» Saskia rümpfte angewidert ihr Näschen.
Gerhild beachtete sie nicht länger, wandte sich an ihre Söhne: «Geht nach vorne, schickt Oma her und helft im Laden.»
«Aber wir müssen gleich zur Schule», protestierte Max.
«Nur für ein paar Minuten», sagte Gerhild.
Etwas länger dauerte es schon, weil Martha nicht mehr in der Lage war, eine Horde Schüler abzufertigen, nachdem Gerhild sie informiert hatte. Gerhild bugsierte ihre Schwiegermutter ins Wohnzimmer, bettete sie mit einem Schwächeanfall auf die Couch und rief in der Praxis des Dorfarztes an. Ihr wäre es lieb gewesen, wenn sich der Arzt um die alte Frau bemüht hätte – und um den Schwiegervater, dem es in der Backstube bestimmt nicht besser ging. Doch es nahm keiner den Hörer ab, obwohl garantiert schon zwei Arzthelferinnen da waren und einigen Leuten Blut abzapften.
Ersatzweise alarmierte Gerhild Franziska und Gottfried. Die lagen noch im Bett. Franziska kam ans Telefon, auch für sie war es ein Schock. Aber sie versprach, sofort zu kommen, und war eine gute Viertelstunde später tatsächlich da.
Inzwischen stand Gerhild mit im Laden, bediente wie in Trance und schickte Franziska ins Wohnzimmer, wo nun auch ihr Schwiegervater saß und blicklos vor sich hin starrte.
Franziska setzte sich dazu, nahm die Hand ihrer jüngsten Schwester und sah sich plötzlich selbst so liegen. Als junge Frau. Nach Rias Geburt im Grevinger Krankenhaus. Und Gottfried neben dem Bett hielt ihre Hand und sagte: «Ich hab sie angemeldet. Hab sie Maria genannt. Ich dachte, daran bist du gewöhnt, dann ist es nicht so schwer.»
In all den Jahren hatte Franziska keine Vorstellung gehabt, wie ihr Mann sich dabei gefühlt haben musste. Nun wusste sie es. Man konnte es keiner
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