Die Schuldlosen (German Edition)
gleichzeitig nach der Puppe.
«Nein», sagte Franziska wieder, die auch die Gestik ihrer Enkelin richtig zu deuten wusste. «Die kannst du nicht haben. Für so eine bist du noch viel zu klein.»
«Sie kann sie gerne haben», erklärte der Junge im Sommerkleid. «Für später, wenn sie größer ist. Ich habe noch drei, die sprechen können. Und eine macht Pipi, wenn ich ihr das Fläschchen gebe.» Damit setzte er die Puppe in Silvies Buggy, lächelte auf das Kind hinunter. «Ich schenke sie dir.»
«Was wird deine Mutter dazu sagen?», packte Franziska die Gelegenheit beim Schopf. Es ersparte ihr das Klingeln an der Haustür und die Bitte um ein Gespräch, die womöglich abgelehnt worden wäre. «Meinst du nicht, wir sollten sie fragen, ob du so einfach eine Puppe verschenken darfst?»
«Ich habe doch viele», sagte er. «Die alten von Alexa darf ich nicht mit nach draußen nehmen. Mami wird furchtbar traurig, wenn eine davon kaputtgeht. Aber die Susi ist nicht wertvoll, die hat Cecilia mir gekauft.»
«Cecilia?», wiederholte Franziska ungläubig. «Die Frau deines Bruders kauft dir Puppen? Ist die auch nicht mehr ganz dicht?»
Die letzte Bemerkung rutschte ihr so heraus. Es war ihr sofort peinlich. Der Junge wusste damit wohl nichts anzufangen, zuckte ratlos mit den Achseln und betonte: «Nur die Susi, weil Mami geweint hat, als wir zum Friseur mussten.»
«Ach so», sagte Franziska. «Fragen wir Mami trotzdem, ob du die Susi verschenken darfst.»
Er gehorchte, drehte seinen Puppenwagen um und schob ihn zurück zum elterlichen Anwesen. Den leeren Puppenwagen ließ er im Vorgarten stehen, ging seitlich am Haus vorbei zu der großen Rasenfläche, die sanft zur Greve hin abfiel und früher Bleiche geheißen hatte. Im Gegensatz zu damals gab es nun den Maschendrahtzaun auf der Uferböschung.
Helene sonnte sich auf einer gepolsterten Liege. Das zerstörte Gesicht von einem breitkrempigen Strohhut beschattet und zur Hälfte von einer dunklen Brille verdeckt. Haut und Knochen verhüllte ein Freizeitanzug aus leichtem Stoff. Sie las in einem Roman von Thomas Mann. Als Franziska mit den beiden Kindern näher kam, richtete sie sich auf und legte «Die Buddenbrooks» neben sich auf den Rasen.
Für ihren Sohn, der Silvie half, ihren Buggy mit der Susi darin zu schieben, hatte sie nur ein Lächeln, konzentrierte sich sofort auf Franziska, als gelte es, dem Feind die Stirn zu bieten. «Wie nett, dass du mich mal besuchst, Franziska. Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie lange ist das her?»
«Neun Monate», antwortete Franziska, «fast zehn. Es war letztes Jahr im Dezember.»
«Nein», widersprach Helene. «Das muss länger her sein.»
Franziska schüttelte den Kopf. «Es war auf dem Friedhof. Du hast mich vielleicht nicht bemerkt, aber ich dich – und ihn.»
Beim letzten Wort deutete Franziska auf den Jungen, der in seinem Sommerkleidchen neben Silvie auf dem Rasen saß und ihr zeigte, wie man die Susi sprechen ließ. Franziska rechnete mit einem weiteren Widerspruch, vielmehr Protest, was ihn betraf. Aber Helene schaute sie nur abwartend an. Also sprach sie weiter: «Es war der Mittwoch, an dem Ria spätabends mit dem Kind vor der Tür stand. Den Tag werde ich nie vergessen.»
«Das verstehe ich», sagte Helene. «Seitdem wartest du darauf, dass Ria zurückkommt und dir das Kind wieder wegnimmt. Das muss schrecklich für dich sein.»
«Nein», widersprach Franziska. «Es wäre nur natürlich, Ria ist schließlich die Mutter und eine junge Frau. Ich fühle mich nicht mehr jung genug, um ein Kind aufzuziehen. Wenn Silvie sechzehn wird, hat Gottfried die siebzig schon vollgemacht. Soll er in dem Alter wieder nächtelang herumfahren und Diskotheken abklappern?»
Helene schwieg.
Franziska betrachtete die beiden Kinder, die ein paar Meter entfernt friedlich mit der Puppe spielten. Kaum vorstellbar, dass dieser mädchenhaft sanfte Junge Lothar Steffens blutig geschlagen haben sollte. Wie behutsam er mit Silvie umging.
Nach ein paar Sekunden sprach Franziska weiter: «Manchmal träume ich, dass Ria kommt, um Silvie abzuholen. Es sind nur diese Träume, die mir Sorgen machen. Sie sind so real. Ich gehe mit Ria in die Küche, mache Kaffee und stelle noch eine Tasse zu den beiden, die schon fürs Frühstück auf dem Tisch stehen. Und für Ria die Zuckerdose. Und wenn Gottfried um sechs herunterkommt, weil er zur Arbeit muss, sitze ich auf einem Stuhl und trinke Kaffee mit Ria. Bis er mich weckt.
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