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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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einem regelrechten Haudrauf entwickelt. Schon im Frühjahr 1984 hatte er in Garsdorf einen Ruf wie Donnerhall, woran Lothar Steffens nicht völlig schuldlos war. Frau Steffens hörte es nicht gerne, Franziska hätte es auch nie laut ausgesprochen, aber Lothar war keineswegs das brave, naive Bübchen, das immer wieder vollkommen grundlos von einem Satansbraten verprügelt wurde. Gottfried nannte den Nachbarsjungen mal einen kleinen Stinkstiefel, der Alex bis aufs Blut triezte und herumlamentierte, wenn er Prügel bezog.
    Und Lothar war nicht der Einzige, der sich darum bemühte, Alex zum Außenseiter zu machen. Dennis Heckler war ein Jahr jünger und wurde 1984 eingeschult. Da mochte Alex noch so männlich gekleidet sein, wenn er zur Schule kam. Dennis Heckler hatte oft genug gesehen und sah es immer noch, wie Alex daheim für seine Mami Alexa spielte. Und er sorgte dafür, dass es allgemein bekannt wurde.
    Danach pilgerten fast jeden Nachmittag ein paar Kinder die Breitegasse entlang, um einen Blick auf Alexa zu erhaschen. Am nächsten Vormittag wurde Alex in der Schule damit aufgezogen. Und weil er sich nicht anders zu helfen wusste, schlug er zu, um zu beweisen, dass er ein Junge war.
    Es half nicht mehr, dass seine Schwägerin es sich auf Druck der Klassenlehrerin zur Aufgabe machte, ihn nun regelmäßig zum Friseur nach Grevingen zu bringen. Lothar hatte irgendwo den Ausdruck «Transe» aufgeschnappt und in Erfahrung gebracht, was das Wort bedeutete. Den Stempel drückte er Alex dann so lange auf die Stirn, bis der ihm dafür zwei bleibende Zähne ausschlug. Da gingen beide schon ins dritte Schuljahr.
    Frau Steffens war außer sich vor Zorn, nahm einen Rechtsanwalt, wollte auf jeden Fall vor Gericht ziehen, um Schadenersatz und Schmerzensgeld für ihren Sohn zu erstreiten. Der Anwalt, den Familie Junggeburt bezahlte, handelte sie schon im Vorfeld auf fünfhundert Mark herunter, hielt beiden Kindern einen Vortrag über Demütigung und Schmerz und sorgte dafür, dass die Kontrahenten sich in der Villa Schopf die Hände reichten und Frieden schlossen. Im Gegenzug übernahm Familie Junggeburt die Zahnarztbehandlung für Lothar. Und dafür sollte Frau Steffens sich auch noch bedanken.
    Ihr passte es anfangs gar nicht, dass die Jungs nach dem Handschlag Freunde wurden. Aber nachdem Alex im folgenden Winter ein paarmal zum Spielen gekommen war, revidierte sie ihr Urteil über ihn und hielt die Wandlung ihrem Sohn zugute.
    «Lothar hat einen sehr positiven Einfluss auf ihn», erzählte sie Franziska. «Sie haben den ganzen Nachmittag friedlich in Lothars Zimmer gespielt.»

    Im Juni 1986 kam ein Schreiben von der Stadtverwaltung, in dem mitgeteilt wurde, dass die Liegezeit für Maria Welter im August d.J. abgelaufen sei. Dann lag Mariechen seit dreißig Jahren unter der Erde. Die Friedhofsverwaltung wollte die Grabstätte im Oktober einebnen lassen. Den Eltern stellte man frei, vorher den Grabstein, Grabschmuck, eine eventuell vorhandene Einfassung und die Bepflanzung abzuräumen.
    Die Post kam immer erst nach Mittag. Franziska hatte gerade den Abwasch gemacht und Silvie einen Spaziergang zu den kleinen Enten an die Greve versprochen. Sie las die Sätze dreimal und hatte danach immer noch nicht verstanden, was die mit Mariechens Grab vorhatten. Einebnen?
    Natürlich wusste sie, was das hieß. Und wenn es um das Grab eines Erwachsenen gegangen wäre, hätte sie es auch akzeptieren können. So groß war der Friedhof nicht, dass man immer neue Gräber ausheben konnte. Aber in der Kinderecke … Es war seit Jahr und Tag in Garsdorf kein Kind mehr gestorben. Und es war in dem Geviert hinter der Buchsbaumhecke noch Platz für mindestens zwei kleine Gräber.
    Mit dieser Ungeheuerlichkeit auf dem Küchentisch konnte Franziska nicht warten, bis Gottfried von der Arbeit kam. Sie rief ihn bei den Stadtwerken an, las ihm das Schreiben vor und schloss mit den Worten: «Das können die doch nicht machen.»
    «Die können», sagte Gottfried. «Und es hilft überhaupt nichts, wenn du dich aufregst. Ich kümmere mich am Samstag darum. Den Stein setzen wir in den Garten. Was wir mit der Einfassung machen, weiß ich noch nicht. Aber da fällt uns schon was ein.»
    «Und was ist mit Mariechen?», fragte Franziska.
    «Nach all der Zeit ist nichts mehr da», sagte er.
    «Woher willst du das wissen?», begehrte Franziska auf.
    «Glaub mir und sei vernünftig», bat Gottfried. «Wir reden heute Abend. Ich muss jetzt hier weitermachen.»
    Von

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