Die Schuldlosen (German Edition)
denn die offiziellen Stellen tun, wenn sie Ria aufspüren? Man kann sie nicht zwingen zurückzukommen.»
Das nicht. Aber wenn Ria hörte, wie sehr sie von ihrer Familie, speziell von ihrer kleinen Tochter vermisst wurde, kam sie vielleicht freiwillig zurück. Obwohl sie selbst es nach Rias Geburt kaum anders gemacht hatte, wollte Franziska nicht in den Kopf, dass ihre Tochter ein Kind in die Welt gesetzt hatte, für das sie sich nicht zuständig fühlte.
Ein wenig graute Franziska auch vor den Konsequenzen, der neuen Verantwortung. Wie sollte das denn gehen in Zukunft? Noch gab es keine Probleme mit Silvies Betreuung. Aber das Kind aufziehen, in drei, vier Jahren jeden Morgen und jeden Mittag zum Kindergarten laufen oder radeln, in fünf oder sechs Jahren jeden Nachmittag am Küchentisch sitzen und mit Silvie lesen, schreiben und rechnen üben, dafür sei sie schon zu alt, meinte sie. Es rechnete doch keiner mehr so wie in früheren Jahren. Und wenn man mal sechzehn, siebzehn Jahre weiter dachte, wenn Silvie sich in dem Alter ebenso herumtrieb, wie Ria es getan hatte?
«Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand», sagte Gottfried. «In die Verantwortung und den Rest wächst man hinein. Man muss nicht von heute auf morgen hohe Mathematik beherrschen. Die fangen auch heutzutage mit kleinen Zahlen an. Und was die Herumtreiberei angeht, darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es notwendig werden sollte.»
Gottfried fiel es leichter, die Gegebenheiten zu akzeptieren. Er war auch nicht von morgens bis abends für Silvie zuständig, musste nicht ständig befürchten, etwas falsch zu machen.
Franziska wurde noch geraume Zeit von allen nur denkbaren Ängsten und Horrorvorstellungen gepeinigt. Und darüber geriet der Junge mit dem Röckchen und dem Zopf nicht in Vergessenheit, nur immer wieder in den Hintergrund.
Im Januar dachte Franziska noch oft an den kleinen Alexander Junggeburt und ihren Vorsatz, mit seinem Bruder zu reden. Immer wenn sie Mariechens Grab besuchte und über die Buchsbaumhecke zum Familiengrab der Schopfs hinüberblickte, entstand das Dezemberbild vor ihrem geistigen Auge. Aber es verblasste, wenn Silvie zurück ins Warme musste, wo sie ein Fläschchen, eine frische Windel, ein Viertelstündchen schmusen und ein fröhliches Liedchen brauchte.
Im Februar rief Franziska wiederholt in der Brauerei Schopf an, wenn ihr der Junge in Mädchenkleidern in den Sinn kam. Nach dem bilderbuchhaften Dezember und dem zwar kalten, aber nicht allzu nassen Januar zeigte der Winter sich gegen Ende von seiner schäbigen Seite. Es war einfach kein Wetter, um mit Silvie im Bus nach Grevingen zu fahren. Und die Kleine für zwei Stunden in der Nachbarschaft abzugeben …
Frau Steffens bot wiederholt an, sich zu kümmern. Das täte sie gerne, sagte sie jedes Mal. Da könne sie sich doch endlich mal für Franziskas Kindergarteneinsätze revanchieren. Aber Lothar lief seit Jahresbeginn mit einer Rotznase herum und hustete, wann immer Franziska ihn zu Gesicht bekam. Silvie hätte sich doch sofort angesteckt. Das musste nicht sein.
Ihre Nichte mochte Franziska auch nicht bitten, für zwei Stunden auf Silvie aufzupassen. Heike erklärte sich zwar jedes Mal dazu bereit, wenn Franziska in die Bäckerei kam: «Wenn du noch mehr einkaufen musst und Silvie nicht mitnehmen willst, weil es zu kalt ist, kannst du sie gerne hierlassen, Tante Franziska. Ich passe bestimmt gut auf.»
Sicher, und in der Bäckerei wäre notfalls auch Martha zur Stelle gewesen. Für Einkäufe im Dorf mochte das mal gehen. Aber Silvie dort abzuliefern, um nach Grevingen zu fahren, da hätte sie eine Erklärung bieten müssen, die möglicherweise schnell die Runde durchs Dorf gemacht hätte. Und Heike zum Babysitten zu sich nach Hause zu bestellen, dafür war ihr das Kind mit seinen zehn Jahren einfach noch zu jung, zu unvernünftig und viel zu sehr mit eigenen Nöten beschäftigt.
Reden konnte man schließlich auch am Telefon, vorausgesetzt, man bekam Albert Junggeburt an die Strippe. Einer Sekretärin zu erklären, aus welchem Grund sie anrief … Dreimal probierte Franziska es und legte wieder auf, weil es ihr unangenehm war, einer Fremden die «familiäre Angelegenheit» näher zu erläutern. Da anzunehmen war, dass die Sekretärin auch den vierten und jeden weiteren Anruf entgegennahm, blieb es beim guten Vorsatz.
Und im März erzählte Frau Steffens ihr dann, «der kleine Junggeburt» sei von seiner Schwägerin zum Einschulungstest gebracht worden,
Weitere Kostenlose Bücher