Die Schuldlosen (German Edition)
ein Knauser, und sie hatten im Margarineviertel gebaut.
So wurde die neue Siedlung am Ortsrand Richtung Grevingen genannt, weil sich dort einige mit dem Hausbau übernommen hatten. Bei denen käme statt Butter nur noch Margarine aufs Brot, hieß es allgemein.
Und nun das! Krankenhaus! Schon seit letztem Sonntag!
Oma fragte natürlich, was um Himmels willen denn passiert sei und warum Franziska nicht längst etwas gesagt habe. Franziska erklärte unter weiteren Schluchzern, ihr hätte nicht der Kopf danach gestanden, in der Familie herumzutelefonieren. Sie hätte bisher nicht mal dem General Bescheid gesagt.
Genau genommen war Silvies Vater inzwischen Generalleutnant und ein Geheimnisträger, der in Bonn auf der Hardthöhe saß. Franziska nannte ihn manchmal einen Geheimniskrämer, weil sie meinte, er hätte seit geraumer Zeit eine Stabsärztin. Bei diesem Begriff dachte Saskia an die Holzstäbchen, mit denen der Doktor einem die Zunge nach unten drückte, wenn er in den Hals sehen wollte.
So wie Saskia ihre Großtante an dem Samstagvormittag Anfang Juni verstand, hatte Silvie zuerst nur ein bisschen, dann aber sehr stark geblutet. Wahrscheinlich hatte sie sich geschnitten. Das war Saskia mal passiert, als sie eigenhändig ihr Frühstücksbrötchen aufschneiden wollte, um zu zeigen, dass sie das schon alleine konnte.
Es musste tüchtig wehgetan haben, weil Silvie sich die Augen aus dem Kopf geweint hätte, erzählte Franziska. Die Ärzte hätten getan, was sie konnten, leider sei alle Mühe umsonst gewesen. Wie sie den letzten Satz auslegen sollte, wusste Saskia nicht. Mit dem, was Franziska sonst noch sagte, hatte sie jedoch keine Interpretationsschwierigkeiten.
Vorgestern hatten die Ärzte ein viel zu kleines Baby geholt. Wo und warum, erklärte Franziska nicht. Doch Letzteres lag für Saskia auf der Hand: Zum Trost für Silvie oder zur Belohnung. Weil Silvie zuletzt sehr tapfer gewesen war und die ganze Prozedur einschließlich der Naht ohne Vollnarkose durchgestanden hatte. Nur eine Spritze in den Rücken hatte sie bekommen.
Damit schloss Franziska ihren Bericht und zeigte Oma ein Foto. «Nur achthundertdreißig Gramm. Das kann doch nichts werden, Martha. Sag mal ehrlich, was denkst du? Sie hat ihn David genannt, weil sie meint, er sei ein Kämpfer.»
Saskia, die das Foto natürlich auch anschauen durfte, sah zuerst nur eine Hand mit einem breiten Ehering, die durch ein Loch in einen Glaskasten gesteckt war. Man musste schon sehr genau hinschauen, um zu erkennen, dass unter der Hand ein Baby lag. Es war so winzig, das Bäuchlein verschwand vollständig unter der Handfläche, rechts und links lugten nur zwei dünne Ärmchen mit klitzekleinen Fäusten hervor. Unten am Bildrand waren noch ein mageres Füßchen und ein Knie zu erkennen. Ein riesengroßer Finger liebkoste ein blau-rotes Gesicht mit einem Pflaster auf einer Wange. Damit war ein Schlauch festgeklebt, der in dem Babynäschen verschwand.
«Das ist nicht gerecht», klagte Franziska unter weiteren Tränen. «Silvie hat keinem Menschen etwas zuleide getan. Da soll man nicht an die Erbsünde glauben. Gottfried will davon nichts hören. Aber wenn der Himmel das Kind nicht für mein Versagen straft, wer tut es dann?»
Gottfried war Franziskas Mann, das wusste Saskia natürlich auch. Von der Erbsünde hatte sie noch nichts gehört. Familie Jentsch erzog ihre Kinder nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Und zur Schule, wo andere Themen zur Sprache kamen, ging Saskia letztes Jahr im Juni noch nicht. Dieser Ernst des Lebens sollte für sie erst nach den Sommerferien beginnen.
«Jetzt mach aber mal einen Punkt, Franziska», verlangte Oma energisch, während Tante Gerhild rasch die nächste Kundin bediente, der es gar nicht recht zu sein schien, so eilig abgefertigt zu werden. Wahrscheinlich hätte sie auch lieber zugehört wie Saskia.
«Wann hast du denn versagt?», wollte Oma von Franziska wissen. «Du hast getan, was du tun konntest. Man kann eben nicht immer. Mit dem Himmel oder irgendeiner Strafe hat das nichts zu tun. Das ist Natur, liegt bei uns eben in der Familie. Heike hat doch auch so ein schwaches Becken. Aber euer David wird es schaffen, da bin ich sicher. Er sieht wirklich aus wie ein Kämpfer. Ein süßes Kerlchen.»
Was Oma immer so behauptete. Saskia fand David mickrig und hässlich. An Silvies Stelle hätte sie den gar nicht gewollt und sich von den Ärzten ein schöneres Baby holen lassen.
Franziska putzte sich die Nase und
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