Die Schuldlosen (German Edition)
Das feuchte Moos platschte bloß unter den Schuhsohlen, und wenn man genau hinschaute, sah man für einen winzigen Augenblick feine Tröpfchen in alle Richtungen davonstieben. Es sah aus, als ob aus dem Moos die Krönchen von Prinzessinnen aufstiegen. Saskia fand das schön, sie wäre gerne eine Prinzessin gewesen, blieb auf Kurs und achtete darauf, mit dem nächsten Schritt wieder genau auf einen der erhabenen, schwarz-grünen Flecken zu stampfen.
Als sie unvermittelt durch die eilends herabgelassene Seitenscheibe neben dem Fahrersitz angesprochen wurde, schrak sie heftig zusammen. «Das glaube ich jetzt aber nicht», sagte ein ihr unbekannter Mann erfreut, erstaunt oder entrüstet.
Saskia konnte weder seinen Ton noch sein Mienenspiel richtig einordnen und stellte sich bereits auf einen mahnenden Vortrag über die Sicherheit für Fußgänger, speziell Kinder, auf dieser vielbefahrenen Straße ein. Da sprach er weiter: «Du bist Saskia, nicht wahr? Du musst es sein. Ich meine, ich hätte dich eben aus der Bäckerei kommen sehen. Jetzt erzähl mir nicht, ich hätte mich verguckt.»
Saskia erzählte ihm gar nichts. Sie war nicht sicher, ob sie nicken oder den Kopf schütteln sollte. Beides wäre richtig gewesen. Ja, sie war Saskia und eben aus der Bäckerei Jentsch gekommen. Und zwar nicht aus dem Laden, wo um diese Zeit viele Kinder herauskamen, sondern aus der Haustür daneben. Also: Nein, er hatte sich nicht verguckt.
Auf Vorsicht bedacht, antwortete sie: «Da wohne ich.»
«Weiß ich doch», sagte er mit breitem Lächeln. «Sonst hätte ich dich bestimmt nicht so schnell erkannt. Mein Gott, bist du groß geworden. Gehst schon zur Schule, was?»
Das war kaum zu übersehen bei einem Ranzen, der fast so groß war wie Saskias gesamter Oberkörper. Sie nickte.
«Macht aber bestimmt keinen Spaß, durch so ein Mistwetter zu laufen», meinte er. «Weißt du was, ich fahr dich schnell. Hüpf rein.» Er deutete auf die Autotür hinter dem Fahrersitz.
Saskia machte keine Anstalten, sein Angebot anzunehmen. Sie hatte ihn noch nie zuvor in Garsdorf gesehen, da war sie sicher. Auch nicht an der S-Bahn-Station in Grevingen. Weiter war sie noch nicht in der Welt herumgekommen. Und nicht einmal in dem Dorf, in dem sie aufwuchs, kannte sie jede Gasse oder jeden Winkel. Aber deshalb lebte sie nicht hinterm Mond. Sie wusste, dass man nicht mit fremden Männern gehen und gewiss nicht zu ihnen ins Auto steigen durfte. Das war ihr schon mehr als einmal und jedes Mal mit drastischen Worten eingeschärft worden.
Fremde Männer mochten noch so nett und freundlich tun, in Wahrheit waren sie böse. Manche erzählten, ihnen sei ein kleiner Hund weggelaufen. Dann baten sie, man möge ihnen bei der Suche helfen. Andere versprachen einem etwas, was man sich seit langem wünschte. Aber die einen hatten gar keinen Hund, und die anderen dachten nicht im Traum daran, irgendwelche Wünsche zu erfüllen. Sie wollten einen nur ausziehen, überall anfassen und furchtbar schlimme Dinge tun. Und damit man sie nicht verriet, machten sie einen anschließend tot.
So war es vor vielen Jahren Janice Heckler ergangen. Ein böser Mann hatte sie ausgezogen, in die Greve geworfen und so lange mit dem Gesicht ins Wasser gedrückt, bis sie tot war. Mehr wusste Saskia nicht über das Ereignis, das zu Ostern 2004 den gesamten Ort erschüttert hatte. Aber das wenige reichte ihr völlig.
Mit den Ermahnungen im Ohr und einem Schreckensszenario vor dem geistigen Auge blieb sie wie angewurzelt stehen, weit genug von der Fahrertür weg, damit der fremde Mann sie nicht blitzschnell durch das offene Wagenfenster packen und zum Einsteigen zwingen konnte. Die bösen Männer taten so was immer. Deshalb hieß es bei den eindringlichen Warnungen auch stets, bloß nicht zu nahe an ein Fahrzeug heranzutreten, wenn der Fahrer nach dem Weg oder sonst was fragte.
«Du hast doch nicht etwa Angst vor mir», interpretierte er ihr Verhalten nicht ganz falsch und fügte beschwichtigend hinzu: «Brauchst du nicht. Ich tu dir bestimmt nichts. Das solltest du aber eigentlich wissen. Oder weißt du nicht mehr, wer ich bin?»
Wenn Saskia es gewusst hätte, hätte sie in ihm wohl ebenso den Leibhaftigen gesehen wie ein Großteil der Garsdorfer Bevölkerung. Vermutlich hätte sie dann laut schreiend die Flucht ergriffen. So schüttelte sie nur den Kopf.
«Du kennst mich nicht mehr», stellte er fest und klang mit einem Mal so traurig, dass er dem Kind fast ein bisschen leidtat. Mit
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