Die Schuldlosen (German Edition)
den nächsten Sätzen schien er sich selbst trösten zu wollen. «Na ja, du warst noch sehr klein, als du mich das letzte Mal gesehen hast. Und ich schätze, ein Foto von mir hat dir noch nie einer gezeigt.»
Das war zwar keine direkte Frage, aber Saskia fand, dass auch diesmal ein Kopfschütteln die richtige Antwort war.
Er lächelte herzzerreißend, seufzte wehmütig und erklärte mit einem seelenvollen Blick aus ungewöhnlich blauen Augen: «Ich bin dein Papa, Süße.»
Wundersame Menschwerdung
Ihres Wissens hatte Saskia weder Vater noch Mutter, nur Oma und Opa, Tante Gerhild, Onkel Wolfgang und deren Jungs Max und Sascha. Außerdem gab es noch Heike, die war die Schwester von Onkel Wolfgang, wohnte aber nicht in Garsdorf, sondern in Grevingen und gehörte somit nicht mehr richtig zur Familie. Sie kam auch nur selten zu Besuch.
Im Mai des vergangenen Jahres hatte die Mutter von Tanja Breuer, die bis dahin Saskias Freundin gewesen war, etwas gesagt, aus dem man hätte ableiten können, Saskia sei das Kind von Heike. Das konnte aber nicht sein, weil Heike keinen Mann hatte, nicht mal einen Freund. Dafür hatte Heike gar keine Zeit, sagte sie jedenfalls immer, wenn Oma danach fragte.
Bis zu der Äußerung von Tanja Breuers Mutter hatte Saskia sich noch keine großartigen Gedanken um ihre Herkunft gemacht. Dabei wusste sie schon als Vorschulkind, dass ein Mann und eine Frau sich ganz doll lieb haben mussten, viel schmusen, Küsschen geben, in einem Bett schlafen und so, damit im Bauch der Frau ein Baby wachsen konnte. Letzteres fand sie eklig, weil ihr auch schon bekannt war, was man sonst noch alles im Bauch hatte und wo die Babys dann herauskamen. Das blieb nicht aus bei zwei fünf und sieben Jahre älteren Jungs im selben Haushalt und der Kundschaft im Laden, die nicht immer ein Blatt vor den Mund nahm, wenn ein kleines Mädchen hinter der Kuchentheke stand und die Ohren spitzte.
An dem Samstag im Mai des vergangenen Jahres hatte Saskia ihre Ohren besonders gespitzt, als die Eltern von Tanja Breuer wegen ihr Streit bekamen. Tanjas Vater meckerte, weil am Abend vorher die Klingel nicht abgestellt worden war. «Reg dich ab», sagte Tanjas Mutter zu ihm. «Man kann doch mal was vergessen. Du hast ja auch nicht dran gedacht. Halt die Klappe, dreh dich auf die andere Seite und penn weiter. Ich mache den Kindern schnell einen Kakao, dann komm ich auch noch mal ins Bett.»
Als Tanjas Vater weiternörgelte: «Warum muss die denn immer ausgerechnet zu uns kommen?», wurde Tanjas Mutter richtig laut: «Warum denn nicht? Sie ist ein Kind, verdammt noch mal! Es wohnt sonst kein Kind in ihrem Alter in der Nähe. Und mir tut sie leid! Glaubst du, sie steht an einem Samstagmorgen schon um halb sieben bei uns auf der Matte, um mit Tanja zu spielen, weil Familie Jentsch um halb zehn einen Ausflug mit ihr machen will? Wenn Gerhild noch mal behauptet, Heike hätte das arme Ding nur aus zeitlichen Gründen bei ihnen abgeliefert, fühle ich ihr den Puls. Das soll jetzt nicht heißen, dass ich kein Verständnis hätte. Nach dem Drama damals konnte Heike die Kleine nicht behalten. An ihrer Stelle hätte ich es wahrscheinlich genauso gemacht. Aber ich hasse es, wenn die immer so einen Quark erzählen.»
Verständlicherweise reizte es Saskia nach dieser Auseinandersetzung, daheim ein paar Erkundigungen über das «Drama damals» einzuholen. Und seitdem durfte sie nicht mehr mit oder gar bei Tanja Breuer spielen. Oma wollte nicht, dass sie den Leuten auf die Nerven ging.
Das hatte aber auch sein Gutes, sonst hätte sie womöglich nie erfahren, auf welch wundersame Weise sie auf die Welt und zur Familie Jentsch gekommen war. Ein paar Wochen später, Anfang Juni, kam nämlich Franziska in den Laden; Omas älteste Schwester und die letzte, die Oma noch hatte. Die beiden mittleren – «unser Traudchen» und «unser Hildchen» – waren schon gestorben.
Franziska war Saskias Großtante. Aber es wäre umständlich gewesen, sie «Großtante Franziska» zu nennen. Saskia durfte sie mit dem Vornamen ansprechen, wie Oma, Opa, Tante Gerhild, Max und Sascha das auch taten. Nur Heike und Onkel Wolfgang sagten «Tante Franziska» zu ihr.
Franziska verlangte ein halbes Graubrot, ein Pfund Schwarzbrot und ein kleines Weckchen und weinte zum Steinerweichen, weil ihre Silvie seit letztem Sonntag im Krankenhaus war. Und Saskias Oma hatte schon vermutet, Silvie kaufe neuerdings auch billiges Fabrikbrot beim Discounter. Silvies Mann war nämlich
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