Die Schuldlosen (German Edition)
Unbehagen.
«Das wird dir noch leidtun!»
Dass er wahrscheinlich nicht die gesamten neun Jahre absitzen musste, war ihr von Anfang an klar gewesen. Vorzeitige Entlassungen auf Bewährung gehörten ja längst zum System. Nicht mal bei lebenslänglich konnte man sich noch darauf verlassen, dass ein Mörder tatsächlich für längere Zeit weggesperrt wurde.
Aber ausgerechnet jetzt! Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Dass Gerhild bei ihrer Zusage blieb, wenn sie davon erfuhr, schien fraglich. Immerhin bestand die Gefahr, dass Alex frühmorgens Gerhilds Weg kreuzte. Und dass ihre Schwägerin bereit wäre, sich mit ihm auseinanderzusetzen, bezweifelte Heike stark.
«Das wird dir noch leidtun!»
Während sie routiniert den morgendlichen Run bewältigte, huschten ihre Augen immer wieder zur Glasfront. Leider war der Vorplatz bei weitem nicht so gut ausgeleuchtet wie der Innenraum der Blockhütte. Vor dem alten Bahnhofsgebäude standen drei prächtige Ulmen, deren Stämme ausreichend Deckung für einen Mann boten. Er mochte dahinten stehen und sie beobachten, oder sich in einer Menschentraube zum Gleis 1 mittreiben lassen und hintenherum zurückkommen, auf einen günstigen Moment lauern, wenn der Kundenstrom nachließ …
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2. Teil
Kinder ohne Mütter
Grevingen-Garsdorf, im Herbst 2010
Während Heike Jentsch besorgt Ausschau nach ihm hielt, befand Alex sich im Wagen seines ehemaligen Freundes auf dem Weg nach Garsdorf, um dem Familiengrab einen frühen Besuch abzustatten und anschließend den Plan in die Tat umzusetzen, der seit dem vergangenen Nachmittag in ihm gereift war.
Auf dem Friedhof hielt er sich nicht länger als fünf Minuten auf, erzählte seiner Mutter nur, wie froh er war, wieder daheim zu sein, und wie er ihr Elternhaus auf Vordermann zu bringen gedachte. Es nieselte, und er wusste nicht, was er sonst noch sagen könnte, setzte sich wieder in Lothars Auto und wartete.
Der dunkelgrüne Kombi stand in einer Lücke der mannshohen Mauer, die den Friedhof vor dem Verkehr auf der Pützerstraße schützte. Damit nicht eines Tages ein Rüpel, Raser oder gar ein Lkw die Kurve nicht bekam und auf den Gräbern landete. Die Straße war eng und von jeher stark befahren. Seit der Einführung der Autobahnmaut wurde sie noch stärker vom Durchgangsverkehr frequentiert als zuvor.
Weil längst kein Sarg mehr von einem Trauerhaus zur letzten Ruhestätte getragen werden durfte, hatte die Gemeinde Garsdorf sich Ende der sechziger Jahre eine Aussegnungshalle mit Kühlraum geleistet. Zudem war eine breite Bresche in die Mauer geschlagen worden. Das ursprünglich an dieser Stelle vorhandene, einflügelige Tor aus Schmiedeeisen, durch das Franziska Welter früher jeden Tag getreten und auf den mit rotem Splitt bestreuten Wegen zur Kinderecke gegangen war, hatte man entfernt und durch ein drei Meter breites Rolltor aus Stahlstäben ersetzt. Seitdem musste Franziska einen kleinen Umweg machen, wenn sie ihr Mariechen besuchte.
Das Rolltor war um gute vier Meter von der Straße zurückversetzt. So konnten Leichenwagen nicht nur bis vor die Aussegnungshalle beziehungsweise den Kühlraum gesteuert werden. Die Fahrer konnten auch vor dem Tor anhalten, um es zu öffnen, ohne einen Stau auf der Pützerstraße zu verursachen.
Der Platz war gewiss nicht als Parkbucht gedacht, aber groß genug, um eine Familienkutsche aufzunehmen. Der Wagen stand parallel zur Straße, was eine elende Rangiererei gewesen war. Doch so blieb er den Blicken der siebenjährigen Saskia, die dicht an der Friedhofsmauer entlang näher kam, verborgen – bis sie die Lücke erreichte.
Obwohl es nicht üblich war, dass frühmorgens ein Auto vor dem Rolltor stand – schon gar nicht in voller Länge in die Lücke gequetscht war –, schenkte Saskia dem Passat zuerst keine Beachtung. Wegen des Nieselregens hatte sie die Kapuze ihres Anoraks tief in die Stirn gezogen. Den Kopf hielt sie gesenkt und war ausschließlich auf ihre Füße konzentriert.
Neben der Friedhofsmauer gab es keinen Gehweg, nur eine Gosse, die nicht regelmäßig gekehrt wurde und die meiste Zeit des Tages im Schatten lag, sodass sich unzählige Mooskissen gebildet hatten. Fußgänger benutzten normalerweise die andere Straßenseite. Zum einen war es auf dem schmalen Bürgersteig dort weniger gefährlich, zum anderen bekam man keine schmutzigen Schuhe oder nassen Füße.
Aber so doll regnete es ja nicht, dass sich in der Gosse ein Rinnsal hätte bilden können.
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