Die Schuldlosen (German Edition)
fragte: «Meinst du wirklich?»
Als Oma nickte, lächelte Franziska kläglich und sagte: «Ich komme mir schon vor wie meine Schwiegermutter. Jeden Tag lauf ich in die Kirche und zünd am Marienaltar zwei Kerzen an. Eine für den Kleinen und eine für Silvie. Das Kind isst nicht, trinkt nicht, schläft nicht. Wenn die Schwestern nicht aufpassen, steht sie nachts noch neben dem Kasten. Sie hat so viel Blut verloren, Martha. Wenn du ihre Leberwerte siehst, wird dir schlecht. Die ganze Zeit hab ich gedacht, sie stirbt. Das hätte ich nicht überlebt. Ich kann nicht noch eine hergeben.» Damit flossen die Tränen wieder wie kleine Sturzbäche.
«Jetzt hör auf zu weinen und mach dich nicht verrückt», verlangte Oma resolut. Sie konnte es nicht sehen, wenn jemand weinte. Bei Kindern machte ihr das nicht so viel aus, die bekamen ein Plunderhörnchen mit Marzipan oder einen Windbeutel mit Schokoladenguss, dann beruhigten sie sich schnell wieder. Aber erwachsene Leute ließen sich nicht so leicht von ihrem Kummer ablenken. Deshalb behauptete Oma auch noch: «Das wird schon. Heutzutage können die Wunder vollbringen, Franziska. Erinnere dich mal, wie wir um jedes Gramm gezittert haben. Unsere war doch auch bloß so eine Handvoll Mensch. Und nun schau sie dir an. Heute muss man aufpassen, dass sie nicht zu dick wird.»
«Unsere» war Saskia. Und nachdem ihre Großmutter mit Heikes schwachem Becken und dem Zittern um jedes Gramm das Rätsel um das «Drama damals» um zwei Punkte erweitert und Öl ins Feuer der kindlichen Wissbegier gegossen hatte, nervte sie ihre Tante so lange, bis Gerhild Jentsch ihr akzeptable Erklärungen bot.
Das schwache Becken verlegte Gerhild der Einfachheit halber in Heikes Badezimmer. In der Wohnung ihrer Mutter war Saskia noch nie gewesen. Sie kannte nur Heikes Kaffeebüdchen an der S-Bahn-Station. Manchmal nahm Gerhild die Kleine mit auf die Mittagstour. Dann bekam Saskia von Heike einen Schokoriegel in die Hand gedrückt. Damit erschöpfte sich die mütterliche Zuwendung. Und wie sollte man einem Kind erklären, dass sein Vater ein verantwortungsloses Schwein war, der Heike nach Strich und Faden belogen und betrogen hatte, und dass Heike, seit ihr endlich die Augen aufgegangen waren, nur noch so viel Gefühl hatte wie ein Holzbalken? Man musste immer aufpassen, wo man so einen Balken anfasste, damit man sich keine Splitter einhandelte.
Gerhild ersann lieber eine rührende Geschichte, die in einem Aufwasch alles erklärte, oder doch das meiste. Heike hatte damals eine Blinddarmentzündung gehabt. Das verwechselten die Leute manchmal mit Kinderkriegen, vor allem bei dicken Frauen. Dass Heike früher viel dicker gewesen war als heute, bewiesen alte Fotos im Familienalbum. Das Drama begründete sich darin, dass Heike mit dem Blinddarm ins Krankenhaus musste und das Kaffeebüdchen geschlossen war. Alle Leute, die morgens dort einkauften, mussten ohne Frühstück zur Arbeit fahren. Nachmittags gab’s keinen Kuchen. Heike verdiente kein Geld. Das war natürlich ein Drama gewesen.
Als Heike nach der Operation wieder aufstehen durfte, lief sie ganz nervös im Krankenhaus herum und kam an Glaskästen vorbei, auch Brutkästen genannt. In einem lag Klein Saskia, ein so niedliches Baby, dass Heike es gerne selbst behalten hätte. Aber wie sollte eine Frau, deren Tag um vier in der Frühe begann, sich um ein Baby kümmern? Heike fand doch kaum die Zeit, sich selbst den Schlaf aus den Augen zu waschen, weil sie schon um Viertel nach vier aus der Wohnung musste, um in Garsdorf die Brötchen abzuholen.
Und man musste auch bedenken, dass Babys größer wurden, irgendwann waren es Schulkinder. Wie hätte Heike mit all ihrer Arbeit im Kaffeebüdchen dafür sorgen sollen, dass Saskia gewaschen, gekämmt, ordentlich gekleidet und, mit einem gesunden Frühstück versehen, pünktlich zur Schule kam?
Heike hatte sich das gut überlegt. Und dann war ihr eingefallen, dass Gerhild schon oft gesagt hatte, sie hätte nach ihren beiden Rabauken gerne noch ein kleines Mädchen bekommen. Da hatte Heike gedacht, mit diesem süßen Baby könnte sie Gerhild eine große Freude machen. Was ihr auch gelungen war.
«War ich denn nicht so klein wie der David?», fragte Saskia. An der Handvoll Mensch mit dem mageren Füßchen war für ihren Geschmack nun wirklich nichts süß.
«Nein, du warst drei Pfund schwer», bekam sie zur Antwort.
Das war mehr als ein Graubrot, durchaus ausreichend, fand Saskia. «Und warum hat Oma um
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