Die Schuldlosen (German Edition)
vor acht. Vor der Grundschule herrschte um die Zeit reger Verkehr. Längst nicht alle Kinder kamen wie Saskia zu Fuß. Und viele wurden auf die letzte Minute abgesetzt.
«Macht es dir etwas aus, wenn ich dich hier rauslasse?», fragte er. «Es ist ja nicht mehr weit, das schaffst du bequem. Wenn ich vor der Schule einen Parkplatz suchen muss, dauert es bestimmt länger. Und es ist besser, wenn uns keiner zusammen sieht.»
Das hätte er nicht ausdrücklich betonen müssen, es verstand sich von selbst. Sollte Oma jemals erfahren, dass sie zu ihm ins Auto gestiegen war, gab es garantiert monatelang Hausarrest, Fernsehverbot, nichts Süßes mehr, und jede Aufgabe für die Schule müsste mindestens dreimal geschrieben oder gerechnet werden.
«Kommst du noch mal wieder?», fragte sie.
«Klar», sagte er. «Ich muss dir noch einiges erzählen, was du nicht weißt. Oder interessiert dich das nicht?»
«Doch.» Saskia war an allem interessiert, was sie noch nicht wusste. «Wann kommst du denn?»
«Morgen früh», sagte er. «Ich weiß allerdings nicht, ob ich dann wieder das Auto nehmen kann. So oder so sehe ich zu, dass ich um sieben Uhr beim Tor stehe. Vielleicht kannst du auch ein bisschen zeitiger kommen als heute, damit ich nicht zu lange warten muss. Meinst du, das ist zu schaffen, ohne dass du Ärger bekommst und unser Geheimnis verraten musst?»
Saskia nickte zuversichtlich, legte den Tammi-Bären zurück in den Kindersitz und krabbelte auf Anweisung hinüber zur Beifahrerseite. Auf der Fahrerseite wäre das Aussteigen zu gefährlich gewesen, da fuhr ein Auto nach dem anderen vorbei.
Auf den paar Metern bis zum Jumperzweg ging Heikes Tochter nicht, sie hüpfte und riskierte ein verstohlenes Winken, als der Passat an ihr vorbeizog. Ihr Unbehagen und die Furcht vor dem Fahrer waren bereits Vergangenheit.
Alex registrierte das Winken mit einer gewissen Genugtuung und spürte, wie die Anspannung der letzten Stunden von ihm abfiel. Wenn man bedachte, dass er vor einer halben Stunde noch nicht genau gewusst hatte, was er mit der Kleinen machen sollte, wenn es ihm gelang, sie ins Auto zu locken, war es verdammt gut gelaufen, entschieden besser als erwartet.
Sich eine Entführung auszumalen war eine Sache, die Konsequenzen zu bedenken eine ganz andere. Dass die Polizei sofort auf ihn käme, lag auf der Hand, die mussten doch nur zwei und zwei zusammenzählen. In der Villa hätte er Saskia allenfalls bis Mittag unterbringen können. Wenn sie nach Schulschluss nicht heimgekommen wäre, hätte bald die Suche nach ihr begonnen. Und da ihre Mutter inzwischen wusste, wer letzte Woche vorzeitig aus der Haft entlassen worden war …
Es gab zwar viele Zimmer, den großen Dachboden und den weitläufigen Keller, aber Geheimgänge oder eine schalldichte Kammer hinterm Bücherregal, in der man ein Kind für die Dauer einer Hausdurchsuchung unterbringen konnte, gab es nicht. Sie hätten ihn augenblicklich wieder beim Wickel gehabt.
Und in Lothars Wagen mit der Kleinen abhauen … So hatte er sich das am vergangenen Nachmittag nach dem Griff in Silvies Handtasche vorgestellt. Natürlich hätte er ein paar hundert Kilometer Abstand gewinnen und sich mit dem Kind in einem Hotel einquartieren können. Aber was dann? Vor dem Fernseher hocken und die Fahndungsaufrufe verfolgen? Darauf warten, dass die Polizei, vom Hotelpersonal alarmiert, an die Tür klopfte?
Nein, es war besser gewesen, sie wieder aussteigen zu lassen. Immerhin war es ihm gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Dank dieser verrückten Geschichte, die ihm eine ganz neue Perspektive eröffnete. Darüber wollte er jetzt erst mal in Ruhe nachdenken, eine Nacht darüber schlafen und einen besseren Plan austüfteln. Leider war er noch nie ein begnadeter Pläneschmied gewesen. Er handelte spontan aus der jeweiligen Situation heraus – wie gerade eben. Das war sein Handicap, und das wusste er nur zu gut.
Aber was er von dieser Geschichte halten sollte, wusste er noch nicht. Retortenkinder! Anonyme Samenspender! Was Lothar wohl sagen würde, wenn er erfuhr, dass Silvie seinen Stammhalter als fremdgespendet ausgegeben hatte? Oder sollte Lothar tatsächlich nicht imstande sein, eigene Kinder zu machen? War er deshalb am Samstag so feindselig gewesen? Weil er in ihm einen vollwertigen Mann und wieder den Rivalen um Silvies Gunst gesehen hatte?
Völlig abwegig war dieser Verdacht nicht. Er war geraume Zeit bei Silvie die Nummer eins gewesen. Da hatte sie in Lothar nur den
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