Die Schuldlosen (German Edition)
Chauffeur und ein lästiges Anhängsel gesehen. Aber das war lange her. Er hatte Silvie damals bitter enttäuscht. Und obwohl sie später gute Freunde geworden waren, dachte er nicht gerne an diese Zeit zurück. Lieber nach vorne schauen.
Bis er den Passat zurück zur S-Bahn-Station bringen musste, war noch reichlich Zeit. Er fuhr heim, fütterte erst mal die Heizung und frühstückte ausgiebig. Nur Fabrikbrot vom Discounter, kein Vergleich mit den knusprigen Brötchen aus Heikes Kaffeebüdchen . Aber satt wurde man auch von Bauernschnitten.
Anschließend ging er unter die Dusche. Morgens um halb fünf hatte er sich mit Deo begnügen müssen. Als er aufgestanden war, hatte es nicht mal lauwarmes Wasser gegeben. Verflixter alter Heizkessel. Was den anging, musste er sich auch etwas einfallen lassen, wenn er hierbleiben wollte. Und das wollte er unbedingt, jetzt noch mehr als vorher.
Hier war sein Zuhause. Das konnte ihm keiner streitig machen. Auch wenn es vielen nicht passte: Er hatte ein Recht, hier zu sein! Hier kannte er sich aus – mit den Leuten ebenso wie in der Umgebung. Hier konnte er abschätzen, was auf ihn zukam – oder noch wichtiger: wer. Hier hatte er als Kind mit Puppen gespielt und einmal mit Silvie, die damals nicht viel größer gewesen war als eine Puppe. Auch daran erinnerte er sich noch so gut, als wären ihm solche Momente mit einem Brenneisen in die Seele gedrückt worden. Und all die Momente mit Silvie auf der Rückbank in dem Audi, den er damals gefahren hatte … Ob sie daran auch manchmal noch dachte?
Nachdem er sich rasiert und die Haare geföhnt hatte, hatte er keinen Bock auf eine weitere Putzorgie. Zu gerne wäre er noch ein oder zwei Stündchen Auto gefahren, so wie früher. Einfach so durch die Gegend, das besondere Gefühl von Freiheit und Stärke genießen, das man nur hinter dem Steuer eines Wagens empfand, wenn man nicht gezwungen war, einen Termin einzuhalten oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Spazieren fahren, sich ein ruhiges Fleckchen suchen und diese nervige Parkhilfe studieren. Aber das Risiko ging er lieber nicht ein.
Er brauchte schnellstmöglich ein eigenes Auto. Etwas Kleines, Unauffälliges, wie ursprünglich geplant? Oder der alte Mercedes, der ihm dieses Hochgefühl vermittelt hatte? Der Wagen seines Vaters war eher nach seinem Geschmack. Und die Vorstellung von fliegenden Knochen auf dem Friedhof ließ ihn erneut grinsen.
Kurz darauf saß er doch wieder im Passat, stattete aber nur dem Autohaus Wellinger, der Mercedes-Vertretung in Grevingen, einen Besuch ab. Er sprach mit dem Inhaber persönlich über das Schätzchen, das er in seiner Garage entdeckt hatte.
Kurt Wellinger war weit in den Fünfzigern. Er kannte Alex nur dem Namen nach, erinnerte sich aber noch gut an das Entsetzen, das dieser Name vor fünfzehn Jahren in der hiesigen Autobranche ausgelöst hatte. Janice Hecklers Tod in der Greve zu Ostern 2004 hatte Kurt Wellinger bei weitem nicht so erschüttert wie das erste Leben, das Alex ausgelöscht hatte.
Unfalltod
Zu seinem achtzehnten Geburtstag im Mai 1995 hatte Alex von seiner Mutter das Geld für den Führerschein und ein Auto geschenkt bekommen. Die Führerscheinprüfungen bestand er mit Bravour. Was das Auto anging, fiel seine Wahl anschließend auf einen zwei Jahre alten BMW, den er in Grevingen auf dem Hof von Richard Parlow gesehen hatte.
Parlow war Gebrauchtwagenhändler, siebenunddreißig Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern. Das älteste ging noch nicht zur Schule. Mit der Aussicht auf ein gutes Geschäft ließ er den Führerscheinneuling für eine Probefahrt ans Steuer. Natürlich fuhr er mit.
Sie nahmen die zu der Zeit schon ausgebaute und abgesehen von einer einzigen Kurve recht übersichtliche Landstraße von Grevingen nach Garsdorf. Wie nicht anders zu erwarten, wollte Alex nicht nur eine Runde durchs Dorf drehen. Er wollte den BMW auch auf der Autobahn testen, kam jedoch nur bis zu der Kurve.
Aus Richtung der Stadt lagen Autobahnauf- und -abfahrt unmittelbar dahinter. Unglückseligerweise hatte der Naturschutzbund ausgerechnet an dieser Stelle ein Feuchtbiotop angelegt, das Fröschen als Laichplatz dienen sollte und von Schilf fast vollkommen zugewachsen war.
Der BMW raste mit schätzungsweise hundertzwanzig Stundenkilometern – erlaubt waren siebzig – unter den Anhänger eines Lkws, der gerade aus der Autobahnabfahrt in die Landstraße einbog und wegen des Schilfs am Tümpel erst zu sehen war,
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