Die Schuldlosen (German Edition)
Aufgaben, Lösungswege, Zusammenhänge oder sonst etwas erklären. Wieder und wieder sagte Alex: «Tut mir leid, ich kapier das einfach nicht. Lass mich abschreiben, dann können wir noch was unternehmen. Ich bau auch ein paar Fehler ein, damit es nicht auffällt.»
Jugendliebe
Nach dem Tod des Gebrauchtwagenhändlers gab es für Silvie nichts mehr zu lauschen. Albert Junggeburt sprach das längst überfällige Machtwort. Alex verschwand aus Garsdorf. Kurz darauf wusste jeder im Ort, dass er auf Anordnung seines Bruders für den Rest seiner Schulzeit in ein Internat verbannt worden war. Dort sollte er Zucht, Ordnung, Disziplin und weiß der Teufel was sonst noch lernen. Gebracht hatte diese Maßnahme nichts.
Zwei Jahre später kam er zurück. Und obwohl er zweimal durchs Abitur gerasselt war, entschädigte seine Mutter ihn für die beiden Jahre fern der Heimat mit einem nagelneuen Auto. Diesmal wählte Helene aus: einen kleinen Audi.
So sah Silvie ihn wieder. Sie war fünfzehn, in genau dem Alter, das ihre Großmutter früher gefürchtet hatte. Bisher hatten Franziska und Gottfried keinen Grund zum Klagen und keine schlaflosen Nächte ihretwegen gehabt, dabei hatte ihr Herz schon mit dreizehn geflattert, wenn sie den Nachbarssohn und seinen Freund beim Büffeln belauscht hatte. Und es war nicht Lothar gewesen, der ihren Puls beschleunigt hatte.
An einem Samstagnachmittag stand der Audi nebenan vor Steffens Haus. Und ausgerechnet an dem Nachmittag hatte Silvie gar nicht die Zeit, das unverhoffte Wiedersehen zu genießen und ein wenig auszudehnen. Ihr Vater hatte kurz zuvor telefonisch seinen Besuch angekündigt, um sich für einen längeren Auslandsaufenthalt zu verabschieden. Als ob er auf die letzte Minute gemerkt hätte, dass er vor dem Abflug noch ein bisschen Zeit hatte, um mal nach seiner Tochter zu sehen.
Der General kam nur alle Jubeljahre nach Garsdorf. Silvie war das ganz recht so. Wenn er erschien, wurde unweigerlich über den Verbleib ihrer Mutter spekuliert, von der keiner mehr etwas gehört oder gelesen hatte. Anschließend verlor der General meist noch ein paar Sätze zur Flugkatastrophe von Ramstein. Dort war er noch stationiert gewesen, als das verheerende Unglück passierte. Und wie oft hatte er sich gefragt, ob Frau und Tochter unter den Zuschauern gewesen wären, wenn Ria ihn nicht sechs Jahre vorher vorlassen hätte.
Das klang fast so, als sei er dankbar für Rias Verschwinden. Oma fühlte sich trotzdem bemüßigt, Silvie in jedem dritten Satz als liebes Mädchen zu bezeichnen. Als brauche es eine Rechtfertigung für ihr Überleben. Silvie fühlte sich jedes Mal degradiert. Und der General schaute sie dann immer so merkwürdig an, als grübele er, ob sie vielleicht während eines Manövers gezeugt worden sei und er jeden Monat für das Kind eines anderen ein paar hundert Mark von seinem Sold abdrückte. Er zahlte regelmäßig und nicht zu knapp.
Aber vielleicht quälte ihn auch nur das schlechte Gewissen, weil er nie Zeit für sie hatte und sich so selten blicken ließ, dass sie ihn früher nur als ihren Vater erkannt hatte, wenn er in Uniform erschienen war. Was er ungern tat, weil Opa dann immer in den Garten oder die nächste Kneipe ging.
Wie auch immer: Franziska hatte an dem Samstagnachmittag den Auftrag erteilt, in der Bäckerei Jentsch schnell ein paar übriggebliebene Plunderteilchen oder – wenn noch vorhanden – eine halbe Reistorte zu besorgen, damit man dem General zum Kaffee etwas vorsetzen konnte. Der Laden wurde samstags um zwei Uhr geschlossen, aber es war bestimmt nicht alles verkauft worden. Und für Familienangehörige gab es keinen Ladenschluss.
Als sie aus der Haustür trat, lehnte Alex nebenan lässig an der Motorhaube des Audis. Er wartete auf Lothar, der drinnen mit seiner Mutter debattierte. Frau Steffens war ganz und gar nicht einverstanden, dass Lothar mitfahren wollte.
Als Alex sie ansprach, blieb Silvie selbstverständlich stehen und schätzte sich glücklich, nicht zu den Gänsen zu gehören, die bei solchen Gelegenheiten bis unter die Haarwurzeln erröten. Hinten im Audi saßen zwei Schnepfen von siebzehn oder achtzehn Jahren, die mit Argusaugen belauerten, wie sie ein paar Sätze wechselten. Nichts von Bedeutung, nur:
«Hey, Silvie, wie geht’s denn so?»
«Danke, gut. Schickes Auto.»
«Lust auf eine Spritztour?»
«Vielleicht später mal. Jetzt sitzen ja schon welche drin.»
«Dann bis demnächst.»
Anfangs sah Silvie ihn nur selten, hörte
Weitere Kostenlose Bücher