Die Schuldlosen (German Edition)
jedoch viel aus der Nachbarschaft. Lothar leistete Zivildienst im Grevinger Seniorenheim. Er war jeden Abend zu Hause, hatte aber längst nicht jedes Wochenende frei. Alex absolvierte den Wehrdienst, war fast jeden Samstag daheim, kam aber nicht immer nach nebenan. Wenn er Lothar abholte, war das eine Sache von wenigen Minuten. Da musste Silvie sich den halben Nachmittag auf die Lauer legen, um ihn nicht zu verpassen. Meist hatte sie Pech.
Weil Frau Steffens jedes Mal Zustände bekam, wenn Alex vorfuhr – da sah Lothars Mutter sich im Geiste schon auf dem Friedhof stehen und ihren Einzigen kopflos in einem Sarg liegen –, vermied Lothar nach Möglichkeit weitere Diskussionen mit seiner Mutter und ging lieber zur Villa Schopf, statt sich von Alex daheim abholen zu lassen. Oder sie trafen sich in der Gaststätte «Zur Linde», der Anlaufstelle für die nicht motorisierte Dorfjugend.
Junge Leute ohne Auto kamen zwar am frühen Abend noch mit dem Bus nach Grevingen und mit der S-Bahn nach Köln. Aber spätnachts besoffen oder sonst wie angeschlagen zurück kam man nur mit dem Taxi. Das Geld dafür fehlte den meisten. Deshalb fanden sich in der Linde meist etliche Mädchen, die ebenfalls nach Köln wollten.
Wenn nicht, fuhren Alex und Lothar eben alleine dorthin. In Köln war die Auswahl ohnehin größer, sowohl an Mädchen als auch an Etablissements, in denen man Schnecken aufreißen konnte, wie Lothar das auszudrücken pflegte. Die Diskothek in Grevingen, in der lange vor Silvies Geburt belgische Soldaten und ihre Mutter verkehrt hatten, war inzwischen in ein gutbürgerliches Speiselokal umgewandelt worden.
Als Silvie sechzehn wurde, wusste ihre Großmutter längst, dass sie bis über beide Ohren verliebt in Alex war. Aber offenbar passte sie nicht in sein Beuteschema. Wenn sie sich zufällig trafen, war er nett und freundlich, auch mal witzig oder charmant. Doch er machte keine Anstalten, Silvie erneut eine Spritztour anzubieten und sich an ihr zu vergreifen.
Das war die Zeit, in der man ihm in Garsdorf die Spitznamen «Stecher» und «Dosenöffner» verpasste. Man sah ihn selten zweimal mit derselben, wobei man ihn im Dorf eigentlich gar nicht mehr in weiblicher Begleitung sah. Im Ort war er durch. Und jeder wusste, dass Alex das Interesse verlor, sobald ein Mädchen ihn richtig rangelassen hatte. Wenn sich eine nicht damit abfinden wollte, dass sie danach gleich wieder abserviert wurde, spielte Lothar den Tröster. So kam der ebenfalls auf seine Kosten, aber darüber regte sich keiner auf.
Bei Franziska hatte Lothar einen dicken Stein im Brett. Er war tüchtig und vernünftig, hatte sein Abitur mit gut bestanden und bewarb sich noch während seiner Zeit als Zivi um eine Ausbildungsstelle im öffentlichen Dienst, wo er auch prompt genommen wurde. Dass er eine Beamtenlaufbahn anstrebte, wertete Franziska als Garantie für eine gesicherte Zukunft.
Alex dagegen machte bloß die Gegend unsicher. Sich in der Brauerei nützlich zu machen kam ihm nicht in den Sinn. Da wollte sein Bruder ihn auch gar nicht sehen. Also hatte er Zeit und – dank seiner bekloppten Mutter – auch noch Geld im Überfluss. Er fuhr wie ein Irrer, und obwohl er keine weiteren Unfälle verursachte, war er auch aus dem Grund der Schrecken aller Eltern und Großeltern, die um das Leben ihrer Töchter und Enkelinnen zitterten.
Weil er auch während der Woche ein bisschen Spaß haben wollte, bezog er mittags gerne Posten am Gymnasium in Grevingen. Dort lernte Silvie – natürlich nicht allein. Er kam auch nicht auf die Idee, sie einmal mitzunehmen, spielte lieber den Chauffeur für Mädchen aus der Oberstufe.
Und jedes Mal, wenn Silvie mit erstarrter Miene und zitternder Unterlippe von der Bushaltestelle nach Hause kam, atmete Franziska erleichtert auf. Allmählich begann sie, sich Sorgen zu machen. Diese Hartnäckigkeit, um nicht zu sagen Sturheit. Die musste Silvie von ihrem Großvater haben. Jede andere hätte längst kapituliert oder sich aus Frust einem anderen zugewendet.
Lothar zum Beispiel. Der himmelte Silvie an. Sie mochte ihn auch, kannte ihn schließlich schon ihr ganzes Leben und war – wie er einmal scherzhaft erwähnte – in seinen Hemdchen und Höschen aufgewachsen. Aber ihr Herz schlug nun mal für Alex.
Als Silvie dennoch irgendwann bereit war, mit Lothar auszugehen, atmete Franziska auf. Viel zu früh allerdings, wie sich bald zeigte. Silvie hatte nur begriffen, dass der Weg zum Mann ihrer Träume über Lothar
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