Die Schuldlosen (German Edition)
lieber, bis der erste Kunde draußen ans Glas klopfte.
Lothar kam als Dritter, wieder so früh wie am Vortag. Er wollte einen Kaffee und zwei Brötchen zum Mitnehmen, ließ die erste Bahn sausen und regte sich auf, weil Silvie ihn am vergangenen Abend noch angerufen hatte. «Sie hatte sich extra ein Handy geliehen und wollte wissen, warum ich sie bisher nicht besucht habe. Sie meinte, ich hätte sie nur ins Krankenhaus abgeschoben, weil ich eifersüchtig auf Alex wäre.»
«Und? Bist du?», fragte Heike, nicht dass es sie wirklich interessiert hätte. Sie hatte zurzeit wahrhaftig andere Sorgen.
«Quatsch», wies Lothar das ebenso zurück, wie er es bei Silvie getan hatte. «Warum soll ich auf den eifersüchtig sein? Das war ich nicht mal damals, als er mit Silvie zusammen war. Ich wusste, dass sie irgendwann dahinterkommt, was für ein linkes Spiel er mit ihr treibt. Bis auf Janice, die ich nicht mit Gummihandschuhen angefasst hätte, hab ich alle bekommen, die er hatte.»
«Da hast du auch wieder recht», sagte Heike, packte seine Brötchen in eine Tüte und legte ihm die zum Kaffeebecher auf die Theke.
«Hast du inzwischen was von ihm gehört oder gesehen?», wollte er noch wissen, während er pflichtschuldig sein Portemonnaie zückte.
Heike schüttelte nur den Kopf. Hätte sie in dem Moment zur Hintertür geschaut, wäre ihr das Gesicht hinter der kleinen Glasscheibe kaum entgangen. Und sie hätte gewusst, dass Lothar sich im Irrtum befand, als er meinte: «Wahrscheinlich interessierst du ihn auch nicht mehr. Er hatte sechs Jahre Zeit zum Nachdenken. Ich schätze, er wird sich gut überlegen, ob er seine Bewährung aufs Spiel setzt. Am Samstag kam er mir ganz umgänglich und vernünftig vor. Hat kein Theater gemacht, ist einfach gegangen, nachdem ich ihn zurechtgestutzt hatte.»
Weil sie vor Neugier auf das, was ihr unverhofft aufgetauchter Spender – oder Papa, wenn er das denn lieber hörte – noch alles erzählen musste, schier platzte und sie ihn nicht unnötig warten lassen wollte, nahm Saskia an dem Dienstagmorgen schon um drei Minuten vor sieben gewaschen, gekämmt und komplett angezogen am großen Küchentisch Platz. Ihren Ranzen hatte sie auch schon mit nach unten gebracht und – um lästigen Fragen vorzubeugen – im Hausflur deponiert, wo auch ihr Anorak hing. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit beeilte sie sich mit dem Kakao und ihrem halben Marmeladenbrötchen, ein ganzes schaffte sie frühmorgens nicht.
Max ließ keinen Blick vom Küchenfenster. Der Sturm peitschte nicht nur den Regen gegen das Glas, auch die dünnen Zweige des Haselnussstrauchs, dessen Blätter dann wie kleine Fensterleder über die Scheibe wischten. Max nörgelte, weil man bei so einem Wetter keinen Hund vor die Tür jagte, nur Kinder, die mussten raus.
Martha Jentsch, die ihre Enkel wie jeden Morgen mit dem Frühstück und einer Zwischenmahlzeit für die Pause versorgte, wies Max darauf hin, dass er sich mit seinen vierzehn Jahren sonst strikt dagegen verwahrte, als Kind bezeichnet zu werden.
«Wenn hier jemand Grund zum Jammern hat, ist das unsere Saskia», stellte die Großmutter fest. «Beschwert die sich etwa?»
Obwohl die Kleine den kürzeren Schulweg hatte – wenn sie nicht trödelte, waren es gute zehn Minuten zu Fuß –, war sie dem Sauwetter viel länger ausgesetzt als die beiden Jungs. Die mussten bloß zur Bushaltestelle vor der Kirche. Da die Kirche der Bäckerei Jentsch schräg gegenüberstand, brauchten Max und Sascha also nur die Straße zu überqueren und in einen der Busse nach Grevingen zu steigen.
Außerhalb der Ferienzeit fuhren zwischen Viertel nach sieben und Viertel vor acht am Morgen drei Busse. Keiner war ausdrücklich als Schulbus gekennzeichnet, aber jeder hielt unmittelbar vor den weiterführenden Schulen in der nahe gelegenen Kleinstadt. Bei schlechtem Wetter konnten Max und Sascha im trockenen Hausflur oder im warmen Laden warten und noch einen Schokoriegel oder sonst etwas Süßes stibitzen, ehe der letzte Bus die Haltebucht ansteuerte. Mit dem kamen sie immer noch pünktlich zum Unterricht.
Saskia dagegen musste durchs halbe Dorf laufen. Fast die gesamte verkehrsreiche Pützerstraße hinunter. Der Jumperzweg zweigte erst kurz vor dem Ortsausgang nach rechts ab. Es gab auch einen weniger gefährlichen Weg über den Friedhof und durch den alten Ortskern. Doch der war kompliziert und hätte sie mehr Zeit gekostet. Die Schleichwege im Dorf waren Saskia noch nicht vertraut. In
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