Die Schuldlosen (German Edition)
Köpfen hinüber zur Haltestelle und drängten sich in den Pulk der Wartenden vor den sich zischend öffnenden Hydrauliktüren. Hätten die beiden Jungs nur einen Blick zur anderen Straßenseite hinübergeworfen, wäre ihnen kaum entgangen, dass ihre kleine Cousine bereits draußen war und haltgemacht hatte bei dem Auto, mit dem sonst die Enkelin von Franziska herumfuhr.
Alex lag fast auf dem Beifahrersitz und verrenkte sich den Hals im Bemühen, durch die offene Autotür sowohl die Bushaltestelle als auch den Eingang des Ladens im Auge zu behalten. «Hey, Süße», grüßte er hektisch, nahm Saskia den Ranzen aus den Händen, warf ihn nach hinten, zerrte sie förmlich auf den Sitz und zog hastig die Autotür wieder zu. Da die Scheiben beschlagen waren, war sie nun von draußen nicht mehr zu sehen.
«Ich darf noch nicht vorne mitfahren», belehrte Saskia ihn.
«Ach, die paar Meter», beschwichtigte er. «Außerdem bist du schon so groß, das fällt keinem auf.» Er lächelte sie an, schüttelte dann jedoch tadelnd den Kopf und gab ein paar Schnalzlaute von sich. «Wie läufst du denn herum bei dem Wetter? Hat in dieser Familie keiner die Zeit, dich ordentlich anzuziehen?»
«Das kann ich alleine», antwortete Saskia.
«Das sehe ich.» Er hakte den Reißverschluss an ihrem Anorak ein und zog ihn hoch. Dann wischte er ihr mit einem Handrücken die Regentropfen von Stirn und Wangen, strich ihr auch prüfend über das kurzgeschnittene dunkle Haar, das auf den wenigen Metern schon ziemlich nass geworden war. Anschließend hielt er ihr die Wange hin.
«Bekomme ich heute einen Kuss zur Begrüßung? Oder meinst du, dafür kennen wir uns noch nicht gut genug?»
Saskia zögerte. Sie war nicht daran gewöhnt, irgendwen zu küssen. In der Familie Jentsch waren nicht einmal Gutenachtküsse an der Tagesordnung. Nach dem Abendessen hieß es nur allgemein: «Schlaft gut.» Dann gingen zuerst die beiden Männer nach oben, weil sie mitten in der Nacht aufstehen und mit der Arbeit in der Backstube beginnen mussten. Die drei Kinder schlossen sich ihnen ohne besondere Aufforderung an, sobald das Badezimmer wieder frei war.
Während Martha und Gerhild Jentsch es sich noch für ein Weilchen vor dem Fernseher gemütlich machten und eventuell Dinge besprachen, die für Kinderohren nicht geeignet waren, spielten Max und Sascha in ihrem Zimmer am Computer oder mit der Playstation. Manchmal lernten sie auch noch.
Saskia putzte in der Regel sofort ihre Zähne, wusch sich Hände und Gesicht, schlüpfte in den Schlafanzug und dann ins Bett, wo sie noch ein Hörspiel anstellte. Am liebsten vom kleinen Vampir Rüdiger, dem Schlossgespenst Hui Buh oder dem kleinen Affen Dodo.
Wenn ihr die Augen zufielen, schliefen ihr Großvater und ihr Onkel längst. Ehe Gerhild ins Bad ging, schaute sie noch mal zu Saskia hinein und legte ihr frische Kleidung für den nächsten Tag bereit. Wenn Saskia das nicht mehr geschafft hatte, schaltete Gerhild auch den CD-Player aus und löschte das Licht.
Und das Ungewohnte war nicht der einzige Grund für Saskias Scheu, einen Mann zu küssen, der erst gestern aus dem Nichts in ihrem Leben aufgetaucht war. Normalerweise war es doch so, dass Jungs die Mädchen küssten und nicht umgekehrt, das zumindest behauptete Max gelegentlich.
Allerdings hatte ihre ehemalige Freundin Tanja Breuer ihren Papa alle naselang geküsst und mit ihm geschmust. Und wie oft hatte sie Tanja darum beneidet. Also spitzte sie ihre noch von etwas Marmelade verschmierten Lippen, drückte sie auf seine unrasierte Wange und sagte danach verlegen: «Du kratzt.»
«Du klebst», hielt er dagegen. «Und einen Bart hast du auch.»
Mit den Worten griff er in eine Tasche seiner Lederjacke und zog ein sauberes, noch gefaltetes Papiertaschentuch hervor. Er feuchtete es mit Spucke an und wischte ihr die Reste von Kakao aus den Mundwinkeln und von der Oberlippe.
Saskia protestierte nicht, obwohl sie das eklig fand – einerseits. Andererseits wischte er mit dem angefeuchteten Tuch den letzten Zweifel weg. Für einen richtigen Papa war es wohl normal, dass er einem das Gesicht mit Spucke sauber machte. Tanjas Papa hatte das bei Tanja auch mal getan.
Nachdem er ihr noch fürsorglich den Sicherheitsgurt umgelegt hatte, startete er den Motor, schaltete Scheinwerfer und Scheibenwischer ein und wischte auf seiner Seite ein Guckloch in die beschlagene Scheibe. Dann fuhr er quer über die Straße und fädelte sich hinter den langsam anfahrenden Bus ein.
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