Die Schuldlosen (German Edition)
die verwinkelten Gässchen hinter der Kirche hatte sie sich bisher erst einmal hineingewagt, zusammen mit ihrer früheren Freundin Tanja Breuer. Das war lange her, und es war ihnen beiden unheimlich geworden.
Max ging in den Flur, wandte sich der Treppe zu und nörgelte weiter über den Unterschied, der zwischen Kindern und Hunden gemacht wurde. Das hatte jedoch weniger mit dem Wetter als vielmehr mit den Englischhausaufgaben zu tun, die er gestern nicht mehr geschafft hatte.
Sascha trank den letzten Schluck Kakao, schnappte sich die Plastikdose mit dem ihm zugedachten Pausenbrötchen und rannte seinem Bruder hinterher, um seine Schultasche zu holen und darauf hinzuweisen, dass man Hausaufgaben auch abschreiben konnte, im Bus zum Beispiel. Man musste nur eine Gegenleistung bieten und sollte sich jetzt sputen, weil die Streber meist den ersten Bus nahmen. Wenn die sich nicht kooperativ zeigten, war man früh genug vor Ort, um nach anderen hilfsbereiten Mitschülern Ausschau zu halten.
Martha Jentsch verließ die Küche ebenfalls, um vorne im Laden zu helfen, wo um diese Tageszeit immer die Hölle los war. Daran änderten auch die beiden Aushilfen nichts, die Gerhild zur Seite standen.
Wer machte denn heutzutage noch Frühstück für sich und die Kinder? Nur Leute, die rechnen konnten wie Familie Jentsch. Die meisten anderen deckten sich bei Heike an der S-Bahn-Station ein oder schickten ihren Nachwuchs mit zwei Euro los. Und da mit Ausnahme der Grundschüler alle die Busse nach Grevingen nehmen mussten, lag die Bäckerei Jentsch äußerst günstig. Das Gedränge und der Lärm im Verkaufsraum waren wieder mal unbeschreiblich.
Kaum allein in der Küche, stopfte Saskia sich den letzten Happen in den Mund. Ihr Kakaobecher war schon leer. Sie nahm ihre Dose mit der zweiten Brötchenhälfte und einem halben Apfel, steckte sie in den Ranzen und huschte in den Hausflur, wo sie hastig in ihren Anorak schlüpfte. Bei der lärmenden Kundschaft im Laden erübrigte es sich, tschüs zu sagen und Gefahr zu laufen, auf die Uhrzeit verwiesen und aufgehalten zu werden. Es war erst zehn nach sieben, noch gar nicht richtig hell draußen.
Kein Mitglied der Familie Jentsch sah, dass Saskia das Haus viel früher als üblich und notwendig verließ, um einen Mann zu treffen, der seine ersten sechs Lebensjahre in dem Glauben verbracht hatte, er wäre ein Mädchen und hieße Alexa, und die letzten sechs hinter Gittern.
In den ersten zwanzig Minuten vermisste auch keiner das Kind, danach erst recht nicht mehr. Saskia war wie ihre Cousins früh zur Selbständigkeit erzogen worden. In dem Geschäftshaushalt konnte sich speziell morgens keiner darum kümmern, dass Schuhe und Jacken richtig angezogen, Reißverschlüsse ordentlich zugezogen und die Schulsachen vollzählig im Ranzen waren. Und dass sich alle rechtzeitig auf den Weg machten.
Diesmal hatte Saskia sich nicht die Zeit genommen, ihren Anorak zu schließen und die Kapuze über den Kopf zu ziehen wie am vergangenen Morgen. Ihren Ranzen trug sie an einem Riemen in der Hand, um schneller ins Auto steigen zu können. Sie ging davon aus, dass Lothar Steffens ihrem Papa bei dem scheußlichen Wetter wieder das Auto geliehen hatte. Was wäre Lothar denn sonst für ein Freund?
Sich den Böen entgegenstemmend, reckte sie ihr Gesicht in den Regen, blinzelte die Tropfen aus den Augen und lief ein paar Meter den Gehweg entlang zu einer Stelle, wo man weit genug in beide Richtungen schauen konnte, bevor man die Straße überquerte. Gerhild hatte ihr eingeschärft, nicht direkt vor der Bäckerei einfach über die Straße zu rennen, wie es all die anderen taten.
Saskia nahm an, dass der Passat wieder beim Friedhofstor stehen würde. Vom Tor hatte ihr Papa doch am vergangenen Morgen gesprochen. Aber wie sich zeigte, war Alex nicht so leichtsinnig, dasselbe Fahrzeug zweimal zu ungewöhnlicher Stunde an dieser Stelle abzustellen. Beim ersten Mal fuhr man daran vorbei und wunderte sich vielleicht nur. Beim zweiten Mal schaute man genauer hin.
Diesmal stand der Kombi entgegen der Fahrtrichtung nur zwei Häuser von der Bäckerei Jentsch entfernt vor dem Tor eines Bauernhofs. Beinahe wäre Saskia daran vorbeigelaufen, weil sie den Blick auf die Straße gerichtet hielt. Alex stieß die Beifahrertür auf und machte sie mit einem Pfiff aufmerksam.
Gerade als Saskia stehen blieb, näherte sich der erste Bus. Max und Sascha kamen mit anderen Schülern aus dem Laden geschossen, hetzten mit eingezogenen
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