Die Schuldlosen (German Edition)
Damit war er für den Gegenverkehr praktisch unsichtbar.
Ganz anders als am vergangenen Morgen plauderte er gleich drauflos, griff auf, was sie ihm über ihre Entstehungsgeschichte erzählt hatte, und behauptete, er sei gar kein anonymer Spender gewesen. Da gäbe es nämlich noch eine Möglichkeit, die man ihr wohlweislich verschwiegen habe. Nicht nur alleinstehende Frauen könnten durch eine Samenbank zu einem Kind kommen. Für alleinstehende Männer gelte das ebenso.
«Ich wollte unbedingt ein Kind haben», sagte er. «Als du noch in der Retorte warst, hab ich mich wahnsinnig auf dich gefreut. Ich konnte es gar nicht erwarten, dich endlich im Arm zu halten. Nachdem sie dich in den Brutkasten gelegt hatten, war ich jeden Tag im Krankenhaus bei dir. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich dich aus dem Kasten genommen und auf meine Brust gelegt habe. Deshalb dachte ich gestern, du müsstest mich wiedererkennen. Aber du warst damals wirklich noch sehr klein und hast die meiste Zeit geschlafen. Das tun Babys nun mal, schlafen, trinken und in die Windeln machen.»
«Hast du mir auch Fläschchen gegeben?», fragte Saskia.
«Logisch», sagte er, «und Windeln gewechselt. Sogar gebadet habe ich dich selbst. Die hatten da nur so ein Spülbecken aus Edelstahl. Und die Schwestern hatten nie so viel Zeit wie ich. Die anderen Frühchen haben immer gejammert, weil das Becken kalt war. Da kam zwar warmes Wasser rein, aber so schnell wärmt sich Metall nicht auf. Ich hab immer die Hand unter deinen Po und den Rücken gehalten. Das hat dir gefallen. Danach haben wir es uns in einem bequemen Sessel gemütlich gemacht. Manchmal habe ich dir eine Geschichte erzählt, manchmal etwas vorgesungen. Das volle Programm.»
«Was sind Frühchen?», wollte Saskia wissen. Den Ausdruck hatte sie zuvor noch nie gehört.
«Na, so ganz kleine Babys, wie der David eins war, die noch im Brutkasten liegen müssen, ehe man sie mit nach Hause nehmen darf», erklärte er.
Damit waren sie auch schon fast am Ziel. Er setzte den Blinker, verlangsamte die Geschwindigkeit und bog ab. Diesmal fuhr er den Jumperzweg entlang und hielt unmittelbar vor dem Törchen im Jägerzaun, der den Schulhof von der Straße abgrenzte.
Der morgendliche Bringservice hatte noch nicht eingesetzt, es war nicht mal halb acht. Es war auch nicht anzunehmen, dass sich bereits Lehrerinnen im Schulgebäude aufhielten. Und wenn in den nächsten Minuten eine gekommen wäre, bei den Wetterverhältnissen hätte nicht mal die in Ehren ergraute Frau Sattler, die Alex in seinen ersten vier Schuljahren unterrichtet hatte, mehr gesehen als zwei Schemen in einem dunklen Kombi, wovon es in Garsdorf etliche gab; zur Bäckerei Jentsch gehörten gleich zwei solcher Fahrzeuge.
Trotzdem wollte Alex sich nicht unnötig lange vor der Schule aufhalten. Obwohl sie noch eine halbe Stunde Zeit für eine Unterhaltung gehabt hätten, hatte er es plötzlich sehr eilig, Saskia loszuwerden.
«Pass auf, Süße», drängte er, während er ihren Ranzen von der Rückbank angelte. «Ich hol dich heute Mittag wieder ab. Dann erzähle ich dir den Rest. Wann hast du Schule aus?»
«Heute habe ich vier Stunden», antwortete Saskia.
«Also um halb zwölf», rechnete er nach, zog ihr die Kapuze über den Kopf und half ihr, den Ranzen auf den Rücken zu bringen, ohne dafür aussteigen zu müssen. Dabei sprach er weiter: «Das trifft sich gut. Dann kann ich mein eigenes Auto aus der Werkstatt holen und noch etwas Leckeres einkaufen. Magst du Pizza und Eis? Wir fahren zu mir und machen es uns gemütlich.»
«Wo wohnst du denn?», fragte Saskia.
«Hier», antwortete er. «Ich hab mir extra ein Haus in Garsdorf gekauft, damit wir uns öfter sehen können. Wenn du willst, kannst du dir Fotos von früher anschauen. Was hältst du davon?»
Nicht so viel, wie er gehofft hatte. Natürlich wollte Saskia unbedingt sämtliche Fotos von früher sehen, weil sie annahm, es handle sich um Aufnahmen aus ihrer Zeit als Frühchen. Pizza zählte bei Familie Jentsch nicht zum gesunden Essen, folglich gab es so was nie, und Saskia war entsprechend wild darauf. Eis war sozusagen ihr Leibgericht, und das gab es nur alle Jubeljahre sonntags mal zum Nachtisch.
Darüber hinaus hatte seine Erklärung zur Motivation für eine Samenspende und dem Beginn der Vater-Kind-Beziehung mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Wenn er sich so auf sie gefreut hatte und jeden Tag im Krankenhaus gewesen war, wenn er sie sogar eigenhändig gebadet,
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