Die Schuldlosen (German Edition)
Saskia bis kurz vor das Törchen im Jägerzaun des Schulhofs. Dort beugte er sich zu ihr nieder, hielt ihr die Wange hin und bat: «Komm, ganz schnell, nur ein Kuss.» Dann schaute er ihr noch sekundenlang nach, wie sie davonhüpfte.
Zurück lief er durchs Margarineviertel und an der Greve entlang. Von der Grundschule aus war das der kürzere Weg zur Villa und bestens geeignet für Jogger. Dafür hatte er eigens die Laufschuhe angezogen.
Den Vormittag über beschäftigte er sich im Haus, holte endlich die trotz Weichspüler größtenteils brettharte Wäsche aus dem Keller. Einkaufen brauchte er nichts, es war noch genug von allem da. Um halb eins aß er zu Mittag und schaffte eine ganze Pizza, obwohl er schon wieder nervös wurde.
Bis er sich auf den Weg ins Dorf machen musste, war noch reichlich Zeit. Aber es gab ja auch noch eine Menge Arbeit. Er stellte das Bügelbrett ins Fernsehzimmer und bearbeitete zu irgendwelchem hirnrissigen Geflimmer vom Bildschirm seine alten Jeans und die Bettwäsche – bis in der Eingangshalle die Türklingel schrillte.
Von jetzt auf gleich wurde ihm flau im Magen. Im Geist sah er Wolfgang Jentsch und Dennis Heckler mit einem Schlägertrupp vor der Tür stehen. Es kostete ihn Überwindung, in die Halle zu gehen und zu öffnen. Danach spürte er sekundenlang Erleichterung: Seine Anwältin brachte ihm die Reisetasche, die letzten Donnerstag in ihrem Wagen zurückgeblieben war.
Die Erleichterung schwand ebenso schnell, wie sie durch seine Adern geschwappt war. Er hatte zwar damit gerechnet, dass Frau Doktor Brand unangemeldet auftauchte, trotzdem fühlte er sich überrumpelt, hatte doch jetzt gar keine Zeit für sie.
Viel Zeit hatte sie angeblich auch nicht, wollte nur sehen, wie es ihm ging, und hören, ob er sich sinnvoll beschäftigte und den Kontakt zu seiner Familie pflegte. Das Bügelbrett und der Wäschestapel vor laufendem Fernseher imponierten ihr wenig. Offenbar wertete sie Hausarbeit nicht als sinnvolle Beschäftigung für ihn. Aber für die Besuche im Haus seines Bruders und bei seinen Freunden gab es Punkte, das ließ sie deutlich erkennen.
Dass er sich bei Cecilia nicht lange aufgehalten hatte und von Lothar vor die Tür gesetzt worden war, band er ihr nicht auf die Nase. Erzählte lieber lang und breit, wie Silvie sich gefreut hatte, ihn wiederzusehen, und stellte es so dar, als sei es für ihn ein turbulenter Nachmittag mit Kinderbetreuung gewesen.
«Die beiden haben bereits Nachwuchs, David, sechzehn Monate alt, ein süßer Knirps, Silvie wie aus dem Gesicht geschnitten.»
Greta Brand nickte versonnen. Gegen eine Führung durch die Villa hatte sie nichts einzuwenden. Den angebotenen Kaffee lehnte sie auch nicht ab, löcherte ihn dabei mit weiteren Fragen. Wobei es sie vordringlich interessierte, ob er belästigt wurde. Dass er jemanden belästigen könnte, zog sie nicht in Betracht.
Um Viertel nach zwei erhob sie sich endlich, ließ sich zu ihrem Wagen begleiten und nahm ihm dort noch einmal das Versprechen ab, sie jederzeit anzurufen, wenn er in Schwierigkeiten geraten sollte. Nachdem sie abgefahren war, hastete er zurück ins Haus, wechselte die Schuhe, zog rasch eine alte Windjacke über und sprintete los, als ginge es um sein Leben.
Als er ziemlich außer Atem bei der Sakristei ankam, bog Saskia gerade um die Ecke. Perfektes Timing. So musste er sich keine Minute länger als unbedingt nötig auf dem Friedhof aufhalten, der an dem Mittwochnachmittag auch nicht so verlassen war wie morgens oder im strömenden Regen.
Wieder sollte Saskia um sechs Uhr daheim sein. Bis dahin tranken sie Kakao im Fernsehzimmer, aßen das restliche Eis mit Walnüssen und Krokant, kuschelten auf der Couch und schauten sich das alte Video vom letzten Einhorn an, das noch aus seiner Zeit als Alexa stammte.
Wie tags zuvor machten sie sich um zwanzig vor sechs auf den Weg ins Dorf. Er begleitete Saskia bis zur Kirche, verabschiedete sich dort mit einer weiteren Verabredung für den Donnerstagmorgen und machte sich auf den Heimweg. Diesmal ging er durchs Margarineviertel. Von der Kirche aus war es ein Umweg, aber hier war die Gefahr am geringsten, erkannt und angepöbelt zu werden. Dass Silvie wieder zu Hause war, fiel ihm nicht auf.
Am Dienstag hatte Silvie wegen seines angeblichen Termins bei der Anwältin nicht mit Alex gerechnet, an dem Mittwochnachmittag schon. Stattdessen waren ihre Großmutter, ihr Mann und Prinz Knatschsack gekommen. Da war es entschieden besser, dass Alex
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