Die Schuldlosen (German Edition)
sich nicht blicken ließ.
Franziska hatte morgens Nägel mit Köpfen gemacht und kurzerhand einen Krankenwagen für Gottfried gerufen. Der hatte sich vor Bauchschmerzen kaum noch im Bett aufrichten können, um in den Eimer zu spucken. Was er ausgespuckt hatte, mochte Franziska nicht näher beschreiben. Und Gottfried hatte standhaft behauptet, es sei nicht so schlimm, wie es aussah. Er bräuchte nicht zum Arzt zu gehen. Gehen hätte er auch gar nicht mehr können.
Franziska wäre liebend gerne mitgefahren oder dem Krankenwagen wenigstens gefolgt, notfalls auf ihrem alten Fahrrad, um in Gottfrieds Nähe zu bleiben. Aber wohin mit dem kleinen David? In der Nachbarschaft bemühte sie sich vergebens. Frau Steffens konnte ihren Enkel nicht nehmen, auch nicht für ein oder zwei Stunden. Sie hatte sich gestern im Wartezimmer des Arztes eine böse Erkältung eingefangen, hustete und schniefte, hatte Halsweh und hoffte inständig, dass es sich nicht um die Schweinegrippe handelte.
Gottfried war aus der Notaufnahme sofort in den OP geschafft worden. Da hätte Franziska ohnehin nicht in seiner Nähe bleiben können. Er lag immer noch unterm Messer, als sie zu dritt Silvies Zimmer betraten.
Magenkrebs, wie Lothars Mutter vermutet hatte, war es nicht. Die richtige Diagnose hatte Franziska mit Mühe und Not in Erfahrung gebracht. «Aber nur, weil Lothar bei mir war», erklärte sie mit erstickter Stimme. «Mich wollten die abwimmeln. Lothar lässt sich so was zum Glück nicht gefallen.»
Es war ein Darmverschluss, verursacht von dem Leistenbruch, den Gottfried seit Jahren als nicht behandlungsbedürftig eingestuft hatte.
«Störrischer alter Mann», kommentierte Lothar verständnislos und verärgert, weil es so weit nicht hätte kommen müssen, wäre Gottfried etwas früher zum Arzt gegangen. Der Einzige, der sich freute, war der kleine David. Er turnte glücklich auf seiner Mutter herum und besabberte ihr Gesicht und Hals mit seinen Küsschen.
Franziskas Nerven lagen blank, sie kämpfte unentwegt gegen die Tränen an, wollte auf jeden Fall im Krankenhaus bleiben, bis man sie zu ihrem Mann ließ, mit dem sie so viele Lebensjahre geteilt hatte, dass sie sich ein Weiterleben ohne Gottfried gar nicht vorstellen konnte.
Unter diesen Umständen hielt Lothar es für besser, Silvies Schonzeit zu beenden. Dann konnte Franziska in den nächsten Tagen jederzeit an Gottfrieds Bett sitzen und ihm klarmachen, dass er kein Recht hatte, sich davonzustehlen und sie alleine zu lassen. Dass man ihr in dieser Situation nicht zumuten konnte, sich halbtags und nachts um ihren Urenkel zu kümmern, lag auf der Hand. David hätte sich auch kaum ohne Gebrüll wieder von seiner Mama trennen lassen.
Und so krank war Silvie ja nicht mehr. Die dreieinhalb Tage Ruhe und die Medikamente hatten ein kleines Wunder bewirkt. Sie hustete zwar noch, und ihre Stimme klang wie über eine grobe Feile gezogen. Aber wenn sie sich daheim schonte und ihre Stimmbänder nicht über Gebühr strapazierte, sähe er keine Veranlassung, sie noch länger das Krankenbett hüten zu lassen, sagte der Stationsarzt, nachdem Lothar ihm die Notlage erläutert hatte.
Also packte Lothar ihre Sachen zusammen. Sie blieben noch bei Franziska, bis Gottfried aus dem Aufwachraum auf die kleine Intensivstation verlegt wurde. Lothar bot an, Franziska kurz vor acht abzuholen, damit sie nicht den Bus nehmen musste. Dann fuhren sie zu dritt zurück nach Garsdorf.
Lothar machte sich schon um sechs wieder auf den Weg nach Grevingen. Er wollte noch Besorgungen machen, damit Silvie in den nächsten Tagen keinen Fuß vor die Tür setzen musste. Deshalb stand der Kombi nicht vor dem Haus, als Alex vorbeilief.
Selbstverständlich bestand Lothar darauf, dass Silvie am Donnerstagmorgen daheimblieb, statt ihn zur S-Bahn zu fahren. Sonst hätte sie wohl endlich ihren Autoschlüssel vermisst. Lothar stellte sich den Wecker noch mal auf Viertel vor fünf, um zeitig wieder daheim sein und Silvie entlasten zu können.
Als ihr Mann aufstand, wachte sie kurz auf, schlief aber gleich wieder ein. Gegen Viertel vor acht meldete sich nebenan der kleine David. Silvie trug ihr Söhnchen nach der stürmisch-feuchten Begrüßung hinunter in die Küche und schaltete den Kaffeeautomaten ein. Eine Tasse «stark» brauchte sie mindestens, um richtig wach zu werden.
Während die Maschine die benötigte Menge Espressobohnen mahlte, ließ Silvie den Rollladen vor dem Fenster hochfahren. Und genau in dem Moment lief Alex
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