Die Schuldlosen (German Edition)
Die waren ebenfalls kalt.
«Um sechs bist du wieder hier», hatte Martha Jentsch am Nachmittag gesagt. Saskia kam knapp zehn Minuten später, was im abendlichen Geschäftsbetrieb jedoch keiner registrierte. Es fiel auch nicht auf, dass Saskia beim Abendessen sehr schweigsam war und kaum Appetit hatte. Sie begnügte sich mit einem halben Käsebrot und hätte vielleicht nicht einmal das aufgegessen, wäre sie nicht von Gerhild ermahnt worden, nicht herumzutrödeln.
Wie sonst auch verzog Saskia sich nach dem Essen mit den beiden Jungs hinauf ins Obergeschoss. Max und Sascha vertrieben sich noch etwas Zeit am Computer. Sie putzte gleich ihre Zähne, zog den Schlafanzug an, legte sich ins Bett und hörte die Geschichte vom Schlossgespenst Hui Buh, die sie längst auswendig kannte.
Vor ihrem geistigen Auge kam Hui Buh die Treppe in der Villa Schopf herunter, schwebte durch die große Eingangshalle zum Fernsehzimmer und lugte vorsichtig durch einen Türspalt, um sich zu überzeugen, dass kein Mensch da war, der sich erschrecken könnte oder vor dem ein kleines, nettes, lustiges Gespenst sich fürchten müsste.
Ihr Großvater und ihr Onkel schliefen bereits. Ihre Tante und ihre Großmutter spekulierten im Wohnzimmer über die wahren Gründe für Heikes Hollandpläne. Saskias neue Freundin stand mit keinem Wort zur Debatte. Diese Freundin hatte Martha Jentsch im Laufe des Nachmittags nur einmal flüchtig erwähnt, als Gerhild sich nach Saskias Verbleib erkundigte. Und Gerhild hatte sich gefreut, dass die Kleine wieder ein gleichaltriges Mädchen zum Spielen gefunden hatte.
Als Gerhild kurz nach neun Saskias Zimmer betrat, um ihr die Kleidung für den Mittwoch bereitzulegen, lag Saskia noch wach im Bett und wollte wissen: «Wärst du sehr traurig, wenn ich nicht mehr bei euch wohnen will?»
Die Antwort blieb Gerhild ihr schuldig. Sie nahm an, die Kleine hätte nachmittags mal wieder eine intakte Mutter-Kind-Beziehung erlebt wie früher so oft bei Breuers und sehne sich nun nach ein paar mütterlichen Streicheleinheiten. Ersatzweise strich Gerhild ihr liebkosend über eine Wange und fragte ihrerseits: «Wo willst du denn wohnen? Gefällt es dir nicht mehr bei uns?»
Noch zwei Fragen auf einmal. Wie am Nachmittag beantwortete Saskia nur die letzte: «Doch.»
«Dann reden wir noch mal über einen Umzug, wenn du auf eine andere Schule gehen musst», sagte Gerhild und strich auch noch kurz über die andere Wange. «Bis dahin ist ja noch etwas Zeit. Jetzt schlaf, es ist spät.»
Auch am nächsten Morgen bemerkte niemand irgendeine Veränderung, weil kein Mitglied der Familie Jentsch dem Kind gesteigerte Aufmerksamkeit schenkte. Wieder konnte Saskia viel zu früh in den Hausflur huschen und zur Tür hinausschleichen, ohne dass jemand sie vermisst hätte.
An dem Mittwoch war das Wetter noch ungemütlich, kühl und windig, aber trocken, kein Vergleich mit dem scheußlichen Dienstag. Alex wartete beim großen Friedhofstor, ohne Auto. Ein gemütlicher Spaziergang über den um die Zeit noch völlig verlassenen Friedhof und durch den verwinkelten Ortskern hatte auch einiges für sich. Inzwischen wusste schon das halbe Dorf über seine Rückkehr Bescheid, aber damit rechnete er ja und war entsprechend vorsichtig.
Saskia berichtete von der abendlichen Unterhaltung mit ihrer Tante. Er fand es rührend, wie sie vorpreschte, obwohl damit für ihn enorme Risiken verbunden waren, was er ihr auch sogleich klarzumachen versuchte. Gerhild hätte ja nachhaken können.
«Das war aber keine gute Idee. Du solltest doch erst mal nur darüber nachdenken.»
«Bist du jetzt böse mit mir?» Sie klang so eingeschüchtert.
«Nein», beeilte er sich, ihr diese Sorge zu nehmen. «Ich finde es toll, dass es dir bei mir so gut gefallen hat. Aber wir müssen nichts überstürzen. Wenn Gerhild dich noch einmal fragt, wo du denn lieber wohnen möchtest, sagst du …»
Er legte ihr ein paar unverfängliche Antworten in den Mund, bis sie sich erkundigte: «Können wir denn heute Nachmittag trotzdem wieder bei dir Kakao trinken und Eis essen?»
Hätte er nein sagen sollen? «Ab halb drei stehe ich bei der Sakristei», sagte er und fand in einem Anflug von kindlichem Übermut, er hätte das Zeug zum Dichter. Am Samstag in der Garage: Jetzt gehört er mir – wie alles hier. Nun: Ab halb drei – stehe ich bei der Sakristei. Das Versmaß ließ noch etwas zu wünschen übrig, aber daran konnte man genauso arbeiten wie an sich selbst.
Er begleitete
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