Die Schuldlosen (German Edition)
in die Karre und folgte dem Mercedes eilig. Als Alex in die Garage fuhr, hatte sie das große Endgrundstück schon fast erreicht. Beinahe gleichzeitig kamen sie vor der Haustür an, er mit seiner Tüte vom Discounter, in der das Eis und die anderen Leckereien verstaut waren.
Der Tüte schenkte Silvie keine Beachtung. «Wo warst du denn heute Morgen?», fragte sie, während er aufschloss. «Ich hab dich kurz vor acht vorbeilaufen sehen.»
«Frühsport», behauptete er, ließ sie eintreten, nahm ihr den Buggy ab und zeigte zu dem Türbogen hinüber, hinter dem die Garderobe und die Gästetoilette lagen.
«Du läufst die Pützerstraße runter?», fragte Silvie verständnislos. Aus der Richtung war er schließlich gekommen. «Das ist aber eine heiße Strecke für Jogger. Bist du in Ossendorf lebensmüde geworden?»
«Wolltest du nicht dringend aufs Klo?», umging er die Antwort.
Sie setzte sich in Bewegung. Er schob ihr Söhnchen in die Küche, packte das Eis ins Gefrierfach, zog den restlichen Süßkram aus der Tüte und legte ihn auf eine Anrichte. Hasemann schaute mit großen, bangen Augen zu ihm auf.
«Magst du einen Keks?», fragte Alex und gab sich die Antwort gleich selbst. «Sicher magst du. Alle kleinen Jungs mögen Kekse. Kleine Mädchen übrigens auch, wusstest du das? Was nehmen wir denn? Lieber nichts mit Schokolade, was? Damit saust du dich nur ein, dann bekommen wir garantiert Ärger mit deiner Mama.»
«Mama», sagte David mit verdächtig zitternder Unterlippe und spähte durch die offene Küchentür in die große Halle.
«Sie ist gleich wieder da», versprach Alex, riss eine Packung auf und hielt dem Kleinen ein Löffelbiskuit hin. David griff zu und lächelte ihn an. So schloss man Freundschaften.
Zwei Minuten später kam Silvie zurück, streifte den angenagten Biskuit in der Kinderfaust mit einem missbilligenden Blick, betrachtete das Sortiment auf der Anrichte und stellte fest: «Du lebst aber sehr figurbewusst. Morgens Frühsport, mittags Plätzchen und Pralinen. Verstehst du das unter ausgewogener Ernährung?»
«Das sind nur Beilagen zum Nachmittagskaffee», sagte er und rief ihr damit seine Erklärung zum vergangenen Nachmittag in Erinnerung.
«Wer hat dich denn gestern unangemeldet besucht?» Dass sie neugierig wäre, konnte man wirklich nicht sagen.
«Meine Anwältin», rutschte ihm die Wahrheit heraus.
«Ach», wunderte sich Silvie mit dem ersten Anflug von Misstrauen. «Hast du nicht am Montag gesagt, du müsstest zu ihr? Hast du den Termin geschwänzt?»
«Nein», log er schon wieder. «Am Dienstag hab ich ihr erzählt, dass ich regen Umgang mit der Familie pflege. Das hat sie mir nicht so unbesehen geglaubt und bei Albert nachgefragt. Gestern kam sie her, um mir einen Vortrag über Glaubwürdigkeit und den positiven Einfluss von sozialen Kontakten zu halten.»
«Ach so», gab Silvie sich zufrieden, um in der nächsten Sekunde mit leicht gerunzelter Stirn anzumerken: «Das ist aber untypisch, dass eine Anwältin sich so um einen Mandanten kümmert.»
«Frau Doktor hat eben ein Herz für Mörder», sagte Alex. «Magst du einen Kaffee?»
Silvie nickte. Er füllte den Wasserbehälter der alten Maschine, setzte eine Filtertüte ein, gab gemahlenen Kaffee hinein und erzählte dabei: «Einer vom Wachpersonal hat behauptet, sie hätte sogar den Mörder ihrer Freundin vor dem Knast bewahrt. Der Typ sei gar nicht erst angeklagt worden, obwohl er noch andere Frauen auf dem Gewissen hatte. Und das soll sie gewusst haben.»
«Hat sie kein Gewissen?», fragte Silvie.
Alex zuckte mit den Achseln. «Mit einem Gewissen können Anwälte kein Geld verdienen. Aber ich ja weiß nicht, ob’s stimmt. Erzählen kann man viel. Jetzt bist du aber dran. Was ist denn nun mit deinem Opa?»
Silvie berichtete, wobei sie den Anschein weckte, ihrem Söhnchen eine Geschichte zu erzählen, damit der Knabe ruhig blieb. Das erste Biskuit hatte David erstaunlich schnell verputzt. Seitdem spähte er erwartungsvoll zwischen der Anrichte und seinem neuen Freund hin und her. Als Alex ihm ein zweites Biskuit geben wollte, winkte Silvie hastig ab. «Dann isst er gleich nichts mehr. Mittags bekommt er Gemüse.» Anschließend sprach sie weiter in diesem Märchentantenton, der keine Dramatik aufkommen ließ.
Es stand nicht gut um ihren Großvater, gar nicht gut, hatte Lothar am vergangenen Abend gesagt, als er aus Grevingen zurückgekommen war. Er war bis zur Intensivstation vorgedrungen, um Franziska abzuholen,
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