Die Schule der Nacht
wenn er das tat, sah sie sein leicht zynisches Lächeln, seine hohen Wangenknochen und seine… Äh, wie war das gleich noch mal mit dem Zuhören gewesen?
»Wie viele von Ihnen haben ›Star Trek‹ gesehen?«, fragte Mr Sheldon mit seiner angenehm dunklen Stimme. Nur ein paar Leute hoben zögerlich die Hand, was April angesichts der Superhirn-Dichte in der Klasse überraschte. Offensichtlich dachte Mr Sheldon genau das Gleiche, denn er lächelte. »Ich vermute mal, einige von Ihnen stellen ihr Licht bescheiden unter den Scheffel«, sagte er und erntete dafür ein paar schuldbewusste Lacher.
»Na schön, dann frage ich eben anders. Wer von Ihnen kennt ›Zurück in die Zukunft‹?«
Diesmal gingen mehr Hände in die Höhe, hauptsächlich in den beiden vorderen Reihen, wo die besonders eifrigen Schüler saßen.
»Sehr gut. Wer kann mir sagen, was die eigentliche Grundidee ist, die hinter diesem Film steht?«
Ein Junge aus der ersten Reihe meldete sich. Es war Jonathon, Davinas Freund, wie April feststellte.
»Zeitreisen«, sagte Jonathon. »Marty McFly reist mit der in ein Auto eingebauten Zeitmaschine des verrückten Professors Dr. Brown in die Vergangenheit und die Zukunft und muss dort verschiedene Probleme lösen, um seine Familie zu retten.«
Wieder wurde gelacht, und Mr Sheldon nickte.
»Sehr gut, Jonathon. Dieses Genre wird gemeinhin als Science-Fiction beschrieben, also als naturwissenschaftliche Fiktion. Tatsächlich enthalten die Geschichten jedoch nur sehr wenig naturwissenschaftlich fundierte Fakten. Es gibt in Wirklichkeit keine Technologie zur Erbauung eines ›Fluxkompensators‹. Viel richtiger wäre es, bei Filmen wie ›Zurück in die Zukunft‹ von philosophischer Fiktion zu sprechen. Dadurch, dass Marty die Vergangenheit verändert, beeinflusst er Ereignisse in der Zukunft und umgekehrt.«
Erleichtert stellte April fest, dass sie nicht die Einzige war, die die Stirn runzelte.
»Was uns zur eigentlichen Problematik führt, mit der man sich befassen muss, wenn man über Zeitreisen schreibt«, fuhr Mr Sheldon fort. »Kann mir jemand sagen, wie diese Problematik oft genannt wird? Benjamin?«
Benjamin blickte noch nicht einmal auf. »Das Großvater-Paradoxon«, sagte er in fast schon gelangweiltem Tonfall.
»Sehr richtig, das Großvater-Paradoxon. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie bauen eine Zeitmaschine, reisen siebzig oder achtzig Jahre in die Vergangenheit zurück und bringen Ihren Großvater um, der zu dieser Zeit noch ein kleiner Junge ist. Wenn Ihr Großvater jedoch tot ist, kann er Ihre Großmutter niemals kennenlernen, woraus folgt, dass Ihr Vater beziehungsweise Ihre Mutter nicht geboren werden, was wiederum bedeutet, dass Sie nicht existieren und schon gar nicht diese Zeitmaschine bauen können.«
Mr Sheldon blickte in die verwirrten Gesichter der Schüler und lachte. »Keine Sorge, ich wollte damit nicht Ihr Filmwissen auf die Probe stellen, sondern einfach nur ein anschauliches Beispiel benutzen, um die Neuzugänge in unserem Kurs über unseren aktuellen Stoff zu informieren.«
Oh Gott, stöhnte April innerlich, zeig jetzt bitte nicht mit dem Finger auf mich.
»Diejenigen unter uns, die sich schon seit Längerem mit dem Thema beschäftigen, wissen, was das Schöne an der Philosophie ist: dass sie uns die Möglichkeit bietet, für die großen Fragen der Menschheit – sind Zeitreisen möglich? Gibt es einen Gott? Haben wir einen freien Willen? – verschiedene Thesen aufzustellen, die ebenso einleuchtend sind wie die allgemein gängigen Erklärungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass Sie für das Aufstellen möglichst wilder Theorien in einer Prüfung auch automatisch die beste Note bekommen.«
Alle lachten.
»Okay, lassen Sie uns einen Blick auf ein weiteres jahrhundertealtes Rätsel werfen: das Huhn und das Ei.«
Als Mr Sheldon in die letzte Reihe zeigte, setzte Aprils Herz ein paar Takte aus, doch dann stellte sie erleichtert fest, dass er auf das pummelige Mädchen mit den rosigen Wangen deutete, das neben ihr saß.
»Was war zuerst da, Emily? Das Huhn oder das Ei?«
»Das Ei«, antwortete das Mädchen wie aus der Pistole geschossen.
Mr Sheldon nickte. »Aha. Und warum?«
»Weil die DNS sich nur im Mutterleib oder in diesem Fall im Ei verändern kann, und da Evolution eine Abfolge genetischer Mutationen ist, muss sie vor der Geburt des Huhns stattgefunden haben, also im Ei.«
Mr Sheldon applaudierte. »Ganz ausgezeichnet. Vom wissenschaftlichen
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