Die Schwarze Armee 01 - Das Reich der Träume
geht nur deinen Vater was an!«
An der Ecke begegne ich, wie jeden Morgen, Hinkebein. Er sieht noch kränklicher aus als gestern.
»Ich hab dir zwei Apfelsinen mitgebracht«, sage ich zu ihm. »Aber du musst mir versprechen, zum Arzt zu gehen.«
»Gegen das, was ich habe, kann kein Arzt was machen«, erwidert er. »Die Ärzte haben nicht die Medizin, die ich brauche.«
»Und welche Medizin brauchst du?«
»Jemanden, der mich liebt«, antwortet er. »Jemanden, der für mich da ist. Das ist es, was ich brauche.«
»Aber du hast mich, das weißt du doch«, sage ich. »Ich bin dein Freund.«
»Ein Junge und ein Mann, das passt nicht zusammen.«
»Willst du damit etwa sagen, dass wir keine Freunde sind?«
»Doch, wir sind Freunde, aber du kannst meine Leere nicht ausfüllen. Genauso wenig wie ich deine ausfüllen kann. Verstehst du das, kleines Monster?«
»Nenn mich nicht so. Du weißt doch, dass ich das nicht leiden kann!«, protestiere ich.
»Ach nein! Du darfst mich verrückt nennen und einen Miesmacher, aber ich darf nicht Monster zu dir sagen? Na, du bist mir ja ein feiner Freund!«
»Aber …«
»Nichts aber!«
Ich gehe schnell weiter, bevor er noch etwas sagen kann. Doch ich glaube, er hat mich sehr wohl verstanden. Hinkebein weiß, dass ich mich niemals mit ihm streiten könnte, aber heute habe ich mal gesagt, was ich denke. Und das hat er zur Kenntnis genommen.
Seit mehr als einem Jahr lebt Hinkebein auf der Straße vor der Stiftung und mit der Zeit sind wir Freunde geworden. Er erinnert mich irgendwie an meinen Vater. Sie sehen sich so ähnlich, dass ich manchmal denke, sie könnten Brüder sein. Außerdem hat er mir einmal seine Geschichte erzählt. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich neben ihn gesetzt habe und er angefangen hat, von früher zu reden.
»Ich war bei einem großen Unternehmen angestellt, als Archäologe«, erklärte er. »Viele Jahre ging es mir gut, bis ich eines Tages einen schweren Fehler gemacht habe. Ich leitete eine Ausgrabung außerhalb von Férenix. Wir hatten Überreste einer mittelalterlichen Festung entdeckt. Ganz vorsichtig wurden die Mauern freigelegt, sie waren schon ziemlich beschädigt. Aber dann ist irgendetwas schiefgelaufen und man gab mir die Schuld daran. Ich war der Leiter der Ausgrabungen und somit lag die ganze Verantwortung bei mir … Kurz und gut, damit war meine berufliche Laufbahn ruiniert … und mein Privatleben auch.«
»Aber was genau ist denn passiert?«, fragte ich ihn.
»Das ist sehr kompliziert. Aber wie gesagt, es war mein Ruin. Damit endete meine Karriere als Archäologe. Durch einen einzigen Fehler.«
»Und wie ist das mit deinem Bein passiert?«
»Einmal hatte ich einen über den Durst getrunken. Ich wollte eine Straße überqueren, konnte aber nicht sehen, ob die Ampel grün oder rot war. Und da hat mich ein Auto angefahren. Mein Bein musste amputiert werden. Der Autofahrer hat sich aus dem Staub gemacht, er wurde nie gefunden.«
Seitdem nennen ihn alle Hinkebein. Als ich ihn kennengelernt habe, hatte er noch einen Verband um sein Bein … oder besser gesagt, um das, was davon übrig geblieben war.
Hinkebein ist ein prima Kerl, doch die Leute meiden ihn. Ein Krüppel mit nur einem Bein, der auf dem Boden liegt, ist nicht gerade ein angenehmer Anblick. Hinkebein und ich verstehen uns gut, weil wir etwas gemeinsam haben: Wir sind komische Vögel.
Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mir etwas verheimlichte. Etwas, das er mir nicht verraten wollte.
Wenn ich ihm eines Tages einmal helfen kann, werde ich es tun. Eines der Dinge, die mir mein Vater beigebracht hat, ist, dass man die Menschen als Menschen betrachten muss und nicht als Abfall. Mein Vater weiß eine Menge und ich habe viel von ihm gelernt.
* * *
Horacio steht mit seinen Kumpeln vor der Schule. Und – er spricht mit Metáfora. Wusste ich’s doch! Es musste ja so kommen. Meine Sitznachbarin wird also die Freundin meiner Feinde sein.
»Sieh an, der Drachenkopf! Wir reden gerade über dich«, sagt Horacio, als ich an ihm vorbeigehe. »Wir haben Metáfora über dich aufgeklärt. Jetzt weiß sie, wer du bist.«
Ich antworte nicht. Es würde sowieso nichts bringen! Wenn Metáfora sich auf ihre Seite schlagen will, dann soll sie es tun. Schön für sie. Und wenn sie es ihrer Mutter erzählen will, soll sie es ihr ruhig erzählen. Mir ist das egal. Mir ist alles egal!
»Guten Morgen, Arturo«, sagt Mercurio. »Gibt’s ein Problem?«
»Nein, alles in
Weitere Kostenlose Bücher