Die Schwarze Armee 01 - Das Reich der Träume
irrt sie sich.
»Das sage ich meinem Vater«, droht Horacio völlig unerwartet. »Ich dulde es nicht, dass mich eine Lehrerin vor der ganzen Klasse blamiert.«
»Es wird mir eine Freude sein, mit deinem Vater zu sprechen«, entgegnet Norma. »Er kann zu mir kommen, wann immer er möchte.«
»Ich warne Sie, es wird ihm gar nicht gefallen, wenn er hört, wie Sie mich gerade behandelt haben.«
»Und mir gefällt es nicht, wenn man seine Mitschüler nicht respektiert. Ich mag weder Spitznamen noch Schimpfworte. Und ich mag es auch nicht, wenn man meine Schüler mit irgendwelchen Typen vom Zirkus vergleicht. Wir sind hier in einer Schule, in meiner Klasse. Und hier wird niemand beleidigt. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Damit hat keiner gerechnet. Vielleicht ist es ja doch gar nicht so schlimm, dass Señor Miralles uns verlassen hat. Fest steht auf jeden Fall, dass ich in der Pause Ärger kriegen werde …
»Ich schreibe jetzt meinen Namen an die Tafel. Und ihr tut bitte nacheinander dasselbe. Dann werden wir wissen, wie wir heißen und wie wir von den anderen genannt werden wollen. Und damit das von Anfang an klar ist: Hier gibt es weder Zauberer noch Hexen oder Hexenmeister. Hier gibt es nur Schülerinnen und Schüler, die etwas lernen wollen. Und jeder respektiert hier jeden … Auch wenn er anders ist als die anderen.«
Norma geht zur Tafel und schreibt ihren Namen an: Norma Caballero . Sie winkt Horacio nach vorne und fordert ihn auf, ebenfalls seinen Namen an die Tafel zu schreiben. Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich beuge mich zu meiner Nachbarin hinüber und frage sie: »Sag mal, wie war noch mal dein Nachname?«
»Caballero. Ich heiße Metáfora Caballero.«
»So wie die Lehrerin?«
»Klar, sie ist meine Mutter. Ich habe denselben Nachnamen wie sie.«
»Deine Mutter?«
»Entschuldige, aber ich muss nach vorne, meinen Namen anschreiben«, sagt sie und steht auf.
Meine Sitznachbarin ist also die Tochter unserer neuen Lehrerin. Ist das jetzt gut oder schlecht? Ich weiß es nicht. Klar, sie kann mir helfen, aber sie kann mir auch schaden. Sie kann alles erzählen, was sie von mir weiß. Und wenn ich Pech habe und sie sich mit Horacio anfreundet, hab ich verloren. Denn als meine Sitznachbarin wird sie viel über mich wissen.
»Arturo, würde es dir etwas ausmachen, nach vorne zu kommen und deinen Namen an die Tafel zu schreiben?«, fragt mich Señorita Norma.
Als ich mich wieder hingesetzt habe, fragt mich Metáfora: »Nennen sie dich wegen der Zeichnung auf deiner Stirn Drachenkopf? Wie hast du das gemacht?«
»Das geht dich nichts an«, antworte ich unfreundlich. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es doch eher schlecht ist, dass sie neben mir sitzt. Mein Vater sagt immer, dass alles dazu neigt, sich zum Schlechteren zu wenden. Heute wird mir klar, dass er womöglich recht hat.
* * *
Es ist Nacht und ich sitze auf meinem Lieblingssofa. Der Dachboden der Stiftung ist der einzige Ort, an dem ich ungestört bin. Niemand weiß, dass ich immer hierherkomme, wenn ich niedergeschlagen bin.
Ich sehe gerne auf die nächtliche Stadt und stelle mir vor, jede Nacht in einem anderen Haus zu wohnen. Ich suche mir ein Dach aus und schaue es mir ganz genau an, bis ich tatsächlich anfange zu glauben, dass ich in dem Haus wohne.
Heute habe ich mir ein altes Haus ausgesucht, mit einem schwarzen Schieferdach und einem langen Kamin. Je länger ich es betrachte, desto besser kann ich mir dazu eine Familie vorstellen, die zu mir passt. Eine Familie, in der ich eine Mutter habe, die sich um mich kümmert, und einen Vater, der von allen respektiert wird. Es gibt keine Probleme, alles ist in Ordnung. Ich stelle mir sogar vor, dass mit mir selbst alles in Ordnung ist, dass es nichts Auffälliges an mir gibt, das die Aufmerksamkeit der anderen erregt. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ES verschwunden ist.
»Alles in Ordnung?«, erschrickt mich eine Stimme hinter mir.
Es ist Sombra.
»Was machst du denn hier? Du warst doch schon lange nicht mehr hier oben …«
»Ich weiß, dass du immer hierherkommst, um allein zu sein. Aber mir ist aufgefallen, dass du heute sehr traurig bist. Deswegen habe ich mich hier raufgetraut. Wie früher …«
»Erzähl bitte keinem, dass ich …«
»Keine Sorge, ich werde es niemandem erzählen. Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.«
»Komm, setz dich und erzähl mir was. Erzähl mir eine von deinen Geschichten. Die helfen mir zu vergessen
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