Die schwarze Feder
blieb. Als er in seinem dunklen Zimmer im Bett lag, gelang es ihm jedenfalls nicht, seine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Immer wieder ging ihm durch den Kopf, was an diesem ganz besonderen Tag geschehen war, und die Erinnerungen waren so lebendig wie ein Film.
Weil seine Mutter wegen ihrer Arbeit früh aufstehen musste, ging sie schon um halb zehn ins Bett. Auch Corrine war bereits in ihrem Zimmer und tat da vermutlich, was Mädchen so in ihren Zimmern taten. Davon hatte er keine Ahnung.
Alles war still und dunkel, als Howie um Viertel vor zehn in seine Sachen schlüpfte und leise nach unten ging. Dabei reduzierte er den Schein seiner Taschenlampe, indem er zwei Finger über die Linse legte. Das Haus roch nach Möbelpolitur, leicht nach Raumerfrischer mit Zitronenduft und noch leichter nach den Duftsträußchen, die seine Mom aus selbst gezüchteten Blumen und Küchenkräutern band. Bestimmt mochte Mr. Blackwood das ruhige, wohlriechende Haus, falls er bereit war, zu Besuch zu kommen und sich die Wohnung anzuschauen. Falls er bis Samstag warten konnte, wenn Mom frei hatte, dann konnte er vielleicht mit ihnen essen. Howies Mutter war eine großartige Köchin, und ab und zu von ihr zum Essen eingeladen zu werden war ein weiterer Vorteil für die Mieter der Wohnung.
Howie verließ das Haus durch die Hintertür, die er von außen abschloss, bevor er den Schlüssel in seine Hosentasche steckte. Die Taschenlampe knipste er aus, weil der Vollmond alles in seinen hellen Schein tauchte.
Mit schnellen Schritten, aber ohne zu laufen, steuerte er auf den Friedhof zu. Beim Laufen konnte man sterben, weil es die Flammen anfachte. Natürlich stand er gerade nicht in Flammen, aber er konnte ohnehin schon lange nicht mehr laufen, weil die transplantierte Haut dafür zu empfindlich war. Das Narbengewebe war härter als gewöhnliche Haut, und da, wo beides sich berührte, konnte eine abrupte Dehnung, wie sie beim Laufen vorkam, einen Riss verursachen, dem womöglich eine tödliche Infektion folgte.
Mr. Blackwood hatte gesagt, er werde wahrscheinlich bis neun Uhr schlafen. Da Howie nicht gewagt hätte, ihn zu wecken, war es bereits ein paar Minuten vor zehn, als er in der Gasse hinter dem alten Warenhaus stand und an die Tür klopfte, durch die Ron Bleeker ihn angesprungen hatte. Als Erstes wollte Howie sich entschuldigen, weil er es nicht geschafft hatte, bis zum Frühstück zu warten. Normalerweise war er sehr geduldig, das hatte er während der Genesung von seinen Brandwunden gelernt. Sollte Mr. Blackwood jedoch im Traum bereits zu einer Entscheidung gekommen sein, dann musste Howie das einfach gleich erfahren. Wenn sein neuer Freund tatsächlich bei ihnen einzog, um einige Monate in der Stadt zu bleiben, dann war dies das zweitwichtigste Ereignis in Howies Leben und zweifellos das Beste.
Auf das Klopfen reagierte Mr. Blackwood nicht, weshalb Howie fester an die Tür schlug und rief: »Ich bin’s, Sir, Howie Dugley!«
Vielleicht schlief Mr. Blackwood tief und fest. Falls er nicht spazieren gegangen war oder sich irgendwo etwas zu essen besorgte.
Howie drückte die Klinke nieder. Die Tür war verschlossen.
Eine Weile ging er in der vom Mond beschienenen Gasse auf und ab, um zu überlegen, was er nun tun sollte. Ohne Mr. Blackwoods Zustimmung in das Gebäude einzudringen, kam ihm nicht richtig vor. Allerdings gehörte das Gebäude Mr. Blackwood nicht, nur weil er darin übernachtete. Außerdem war Howie am Morgen unaufgefordert hereingekommen und hatte seinen neuen Freund auf dem Dach angetroffen, was kein Problem gewesen war. Im Gegenteil, Mr. Blackwood hatte sich über sein Erscheinen gefreut.
Das rostige Scharnier ächzte, während Howie das gewohnte Fenster aufdrückte und sich mit den Füßen voraus in die Dunkelheit gleiten ließ. Er knipste seine Taschenlampe an, und während er auf die Treppe zuging, rief er: »Hallo? Mr. Blackwood? Sind Sie da? Hallo? Ich bin’s, Howie!«
Als er das Erdgeschoss erreicht hatte, kam es ihm vor, als sei der große Raum mit seinen vielen Säulen nachts wesentlich größer als am Tag. So weit und gewaltig kam ihm der Raum vor, als würde die Dunkelheit sich meilenweit in alle Richtungen erstrecken. Trotz des Vollmonds waren die verstaubten Fenster oben an der Wand kaum erkennbar, und wenn Howie zu den bleichen Scheiben hochblickte, fühlte er sich wie in einem Kerker.
Der schwache Lichtstrahl seiner Lampe drang nicht besonders weit in die pechschwarze Leere des alten Warenhauses
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