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Die schwarze Feder

Die schwarze Feder

Titel: Die schwarze Feder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Eingangsbereich zu erkennen, nicht jedoch der pechschwarze Flur dahinter, der in der Küche endete. Links war der offene Türbogen des dunklen Wohnzimmers sichtbar, rechts verschwanden die Stufen der Treppe nach oben in der Finsternis. Howie wurde sich bewusst, dass er von hinten angeleuchtet wurde und mit jeder Sekunde in größere Gefahr geriet, doch er zögerte. Er spürte, dass Blackwood sich noch hier unten im Flur befand, und überlegte, ob er zur Treppe laufen und laut schreiend seine Mutter warnen sollte. Dann konnte die ihre Pistole holen, die sie in einer Kommodenschublade verwahrte.
    Hin- und hergerissen von der Angst, sich weiter vorzuwagen, und von Wut auf sein eigenes Zögern, trat er schließlich doch über die Schwelle.
    Eine mächtige Gestalt kam wie ein sich in der Dunkelheit bewegender Schatten aus dem Flur. »Na, Junge?«
    Mit einem dumpfen, tödlichen Knall schlug ein Messer in den Türrahmen ein, wenige Zentimeter von Howies Kopf entfernt.
    Er schleuderte den Stein in seiner rechten Hand, hörte ihn irgendwo aufprallen, als er sich bereits umdrehte, um zu fliehen, hörte Blackwood stöhnen, brüllte »Mom, hol die Pistole!« , lief über die Veranda und stolperte die kurze Treppe hinunter in den Garten. Dort drehte er sich um und warf den zweiten Stein auf ein Fenster, das zerbarst, während er zum Ahorn hetzte, um zwei weitere Kiesel aufzuheben. Seine Mütze hatte er inzwischen verloren, aber sein nächster Wurf traf ein weiteres Fenster, und während er sich erneut bewaffnete, flammte im Obergeschoss Licht auf. Blackwood lief die Verandastufen herunter, das Wurfmesser in der Hand.
    Howie erwartete, das Blackwood auf ihn zustürzen, ihn packen, aufschlitzen und seine dampfenden Eingeweide auf dem Rasen verteilen würde. Aber die Nase des Mannes blutete, schwarz rann das Blut im Mondlicht herab, und jeden Moment konnte ein Nachbar auftauchen. Die ganze Nachbarschaft vermochte selbst Blackwood nicht umzubringen, obwohl er so aussah, als hätte er das gern getan. Deshalb blieb er stehen und zeigte mit dem Messer auf Howie, um seiner Drohung Gewicht zu verleihen: »Wenn du auch nur ein einziges Wort über mich sagst, komme ich eines Nachts zurück und reiße deiner Mama das Gesicht ab. Und dann nehme ich mir richtig Zeit, um Corrine bei lebendigem Leib aufzuschlitzen. Wenn du jedoch den Mund hältst, komme ich nie wieder. Schlampen wie die beiden gibt es massenhaft auf der Welt. Deshalb brauche ich sie nicht, außer du verrätst mich und zwingst mich dazu wiederzukommen.«
    Blackwood drehte sich um und schien über den Rasen durch die Nacht zu fliegen; schneller als irgendein Mensch rennen konnte lief er auf die Kirche und den Friedhof zu. Howie duckte sich, als ein großer Vogel – war es der Rabe? – so tief über seinen Kopf flog, dass er spürte, wie dessen Krallen durch sein Haar und über seine Kopfhaut strichen.
    Fast hätte er sich in die Hose gemacht, um ein Haar, aber stattdessen hastete er aufs Haus zu und schleuderte den nächsten Stein und dann noch einen. Zwei weitere Fenster zerbarsten. Er hatte gerade die Veranda erreicht, als seine Mutter im Schlafanzug in der offenen Tür auftauchte. In der Hand hatte sie die auf den Boden gerichtete Pistole.
    »Howie, was tust du da draußen, was ist los?«
    Obwohl Howell Dugley in der nächsten Woche erst elf Jahre alt werden sollte, hatte er schon mehr Schmerzen erlitten als die meisten Erwachsenen in ihrem ganzen Leben. Er hatte mehr verloren, als ein Kind hätte verlieren sollen, hatte mit der Demut eines Heiligen eine Erniedrigung nach der anderen ertragen. Trotzdem war er bis zu dieser schrecklichen Nacht naiv gewesen. Doch damit war jetzt Schluss. Er wusste Dinge, von denen andere Jungen seines Alters keine Ahnung hatten, zum Beispiel, dass das Leben hart, aber schön war, und dass es aus einer langen Reihe von Verlusten bestand, weshalb man das, was man liebte, so lange festhalten musste, wie man die Kraft dazu besaß. Er wusste, dass hinter freundlichen, vertrauten Gesichtern das Böse lauern konnte, doch nicht alles Böse war verborgen. Manchmal trat es auch dreist ins Tageslicht, weil es wusste, dass man nicht an seine Existenz glauben wollte, und mit dieser Dreistigkeit verhöhnte es einen. Er wusste, dass niemand die Welt retten konnte, weil die Welt gar nicht gerettet werden wollte, weshalb er aus ihren Feuern nur jene retten konnte, die ihm am meisten bedeuteten: seine Familie und – falls er je welche finden sollte – seine

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