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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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von wo aus ich einen guten Blick auf Chor und Presbyterium hatte. Von hier aus konnte ich am besten erkennen, wieviel Schaden die Arbeiten, die gerade ausgeführt wurden, womöglich anrichten würden. Ich sah aber auch, wie sich alles unproblematischer machen ließ.
    Als ich gerade wieder hinuntersteigen wollte, sah ich, daß vom Chor her jemand auf den alten Küster zuging. Es war ein kleiner, relativ junger Mann, auf dessen frühzeitig kahl gewordenem Schädel sich das Licht spiegelte.
    Als ich wenig später wieder bei dem alten Mann ankam, unterhielt er sich gerade mit dem Neuankömmling; beide sahen den Handwerkern bei der Arbeit zu.
    »Dies ist Dr. Sisterson, der Domkustos«, erklärte mir der alte Küster.
    Mit einem freundlichen Lächeln streckte der junge Mann die Hand aus. Er machte einen extrem gehegten und gepflegten Eindruck, weshalb mich die seltsame Vorstellung befiel, daß seine Frau ihn gewaschen und verpackt hatte wie ein kostbares Paket, bevor sie ihn aus dem Haus gelassen hatte. Ich stellte mich vor, und weil er von Amts wegen für das Gebäude verantwortlich war, erklärte ich ihm, warum ich das, was die Arbeiter gerade taten, für so gefährlich hielt.
    »Ich glaube, daß Sie recht haben«, sagte er. »Leider ist Herr Bulmer, der Architekt, wegen dringender Familienangelegenheiten für ein paar Tage verreist. Ich hatte selbst Vorbehalte bezüglich der Art und Weise, wie die Arbeiten durchgeführt werden, außerdem hege ich den Verdacht, daß der Vorarbeiter seine Anweisungen mißverstanden haben könnte.« Mit einem Lächeln fügte er hinzu: »Jetzt haben Sie mich in meinen Befürchtungen noch bestärkt.«
    Ich erklärte ihm den anderen möglichen Verlauf der Rohrleitungen, den ich von der Orgelempore aus erkundet hatte. »Sie sollten genau unter diesem Grabmal entlanggehen«, sagte ich und deutete auf eine große Marmorplatte mit einem schönen Relief hoch oben an der Wand.
    Das Kunstwerk stammte aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert und zeigte zwei Reihen in Basalt eingelegter, kniender Personen, die im Profil dargestellt waren. Männer und Frauen knieten einander gegenüber, in beiden Reihen wurden die Gestalten immer kleiner, angefangen von Erwachsenen bis hin zu Kindern. Das Grabmal war um so auffälliger, weil es nicht vollständig in die Wand eingelassen war, sondern mehrere Zentimeter weit herausragte.
    »Es ist ein Gedenkstein, kein Grabmal«, murmelte Dr. Sisterson. »Die Burgoyne-Gedenktafel. Ich erwähne das nur, weil ich gerade von einem Empfang komme, den mein Kollege, Dr. Sheldrick, gegeben hat, um die Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Geschichte …« Er unterbrach sich abrupt. »Entschuldigen Sie. Das wird kaum von Interesse für Sie sein.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich bin selbst Historiker.«
    Er lächelte. »Dann verstehe ich Ihr Bedürfnis, die Zeugnisse der Vergangenheit zu erhalten.«
    »Und der Herr weiß eine ganze Menge über so alte Gemäuer«, warf der Küster ein.
    »Ich bin sicher, daß er mehr darüber weiß als ich, Gazzard«, meinte Dr. Sisterson mit einem Lachen. Er trat einen Schritt zurück, legte den Kopf zur Seite, um meinen Vorschlag zu prüfen. Dann sagte er zu dem Vorarbeiter: »Ich bin zu dem Entschluß gekommen, den Rat dieses Herrn zu befolgen. Wir werden die Rohrleitungen in dieser Richtung verlegen.«
    Während er genau erklärte, was er nun beschlossen hatte, sah ich, wie der bärtige Mann mich über die Schulter wütend anstarrte. Aber nachdem Dr. Sisterson ihm seine Wünsche klargemacht hatte, gab er die veränderten Anweisungen zögernd an seine Leute weiter.
    Außerordentlich zufrieden mit mir selbst verabschiedete ich mich von meinen beiden Gesprächspartnern, umrundete noch den Kreuzgang, der genau so großartig war, wie ich erwartet hatte, und ging dann an der anderen Seite des Altarraums entlang. Ich begegnete niemandem, außer einem jungen Mann, der ebenfalls eine Soutane trug und den ich für einen weiteren Küster hielt.
    Ich betrat eine der Seitenkapellen und kniete nieder. Als Kind war ich fromm gewesen, dann hatte ich mich zum Skeptiker entwickelt, und in Cambridge hatte ich mich als Atheisten bezeichnet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich ein solcher war, aber ich weiß, daß ich ein paar Jahre später, in der schlimmsten Krise meines Lebens, feststellte, daß ich nicht beten konnte. Auch diese Kathedrale hatte keine religiöse Bedeutung für mich. Sie war ein schönes Denkmal für einen

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