Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
gewaltigen, wunderbaren Irrtum. Ich respektierte die Moral des Mannes aus Galiläa – oder wer auch immer seine Lehren aufgeschrieben hatte –, aber daß er Gottes Sohn war, konnte ich nicht glauben.

Dienstag nacht
     
    Als ich wenige Minuten später an einem der Häuser am Domplatz vorbeiging, zeichneten sich an den Vorhängen die Schatten von Gestalten ab, die sich drinnen im Zimmer hin und her bewegten. Es mußte das Haus sein, in dem der Empfang stattfand, von dem Dr. Sisterson gesprochen hatte. Mir kam der Gedanke, daß Austin vermutlich auch eingeladen gewesen war, wegen meiner Ankunft aber hatte absagen müssen.
    In Austins Diele legte ich Hut und Mantel ab.
    Der Duft nach gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase. Ich fand meinen Gastgeber in der Küche. Mit einer Hand hielt er eine Pfanne über das Feuer, in der anderen hatte er ein Glas Wein. Auf einer kleinen Anrichte standen zwei offene Flaschen Rotwein, und ich stellte fest, daß eine davon nur noch halbvoll war. »Kochst du dir oft etwas?« fragte ich ihn lächelnd, während er mir ein Glas einschenkte. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er lebte.
    »Du möchtest wohl wissen, wieviel Übung ich habe?« antwortete er lachend. Dann fügte er mit gespielter Würde hinzu: »Ich kann dich beruhigen. Meine Einkünfte gestatten es mir nicht sehr oft, auswärts zu speisen. Hat dein Spaziergang dir Appetit gemacht?«
    »Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte ich. »Sie wüten im Dom wie die Vandalen.«
    »Sie verlegen doch nur eine Rohrleitung!« rief er aus und drehte die brutzelnden Koteletts mit Schwung um.
    »So fängt es immer an. Ich weiß noch, was vor ein paar Jahren in Chichester passiert ist. Dort haben sie den Lettner niedergerissen, um Gasleitungen für die Heizung zu verlegen, und dabei die Statik so geschwächt, daß schließlich der Turm über der Vierung einstürzte.«
    »Wenn sie ein paar Fußbodenplatten wegheben, wird deshalb schwerlich das ganze Gebäude zusammenfallen.«
    »Es ist immer gefährlich, an den Stützpfeilern herumzupfuschen, und wie der alte Küster sagt, haben die Arbeiter keine Ahnung, welche Folgen ihre Tätigkeit haben könnte, und es ist ihnen auch egal.«
    »Dann hast du also Gazzard getroffen? Ein vergnüglicher alter Knabe, findest du nicht? Ich hege den Verdacht, daß er sich eigentlich gar keine großen Sorgen um das Gebäude macht. Er fürchtet nur, daß der Geist der Kathedrale geweckt werden könnte; davor haben die Küster alle Angst.«
    »Ein so altes Gemäuer müßte eigentlich mehrere Gespenster haben.«
    »Das, von dem ich jetzt rede, ist aber das berühmteste; und vor dem haben sie auch am meisten Angst. Der Geist des Camerarius oder Schatzmeisters William Burgoyne. Hast du die Gedenktafel seiner Familie gesehen?«
    »Ja, aber es war zu dunkel, um sie richtig zu betrachten.«
    »Eine schöne Arbeit – und in der Geschichte des Gespensts spielt sie eine wichtige Rolle.«
    »Wie macht das Gespenst sich denn bemerkbar?«
    »Was macht ein ordentliches Gespenst? Es geht nachts in der Kathedrale und auf dem Domplatz herum – oder besser gesagt, es stolziert herum – und erschreckt die Leute.«
    Ich lachte. »Trägt es seinen Kopf unter dem Arm?«
    »Ich glaube, es trägt ihn da, wo er hingehört.«
    »Und welches Unrecht ist es, das den Camerarius nachts aus dem Grabe treibt? Es ist doch immer irgendein schreckliches Unrecht im Spiel.«
    »Das größte Unrecht, das man sich nur denken kann: Man hat ihn ermordet, doch sein Mörder wurde nie vor Gericht gestellt. Nach dem Essen werde ich dir die Geschichte erzählen. Nein, sag nichts. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als sie dir anzuhören, denn zu dieser Jahreszeit sind solche Geschichten einfach ein Muß. Und wenn es mir nicht gelingt, dir einen gehörigen Schrecken einzujagen und dich vor Angst schlotternd ins Bett zu schicken, dann bin ich ein schlechter Gastgeber.«
    »Also werde ich den perfekten Gast spielen und gebannt und schreckensbleich lauschen.«
    Austin lächelte und verkündete, daß das Essen fertig sei. Dann drückte er mir ein paar Teller und Schüsseln in die Hand, die ich ins Speisezimmer tragen sollte.
    Wir setzten uns an den kleinen Tisch – eigentlich ein Kartentisch, über den ein ziemlich schmuddeliges Tischtuch geworfen worden war, um seine Scham ob der grünen Stoffbespannung zu verdecken – und verzehrten ein gutes Mahl: Lammkoteletts mit Kapern und gerösteten Zwiebeln, gefolgt von einer köstlichen Quittenpastete, von

Weitere Kostenlose Bücher