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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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der Austin mir sagte, daß er sie in der Bäckerei gekauft habe – damit ich nicht glaubte, er habe sie selbst gebacken, wodurch ich womöglich eine übertriebene Vorstellung von seinen Fähigkeiten als Koch bekäme. Dazu tranken wir beide reichlich Rotwein, Austin jedoch noch erheblich mehr als ich. Das Zimmer war immer noch stickig. Es roch nach Gas, dem Essen, nach Kohle und noch etwas, das irgendwie unangenehm war. Aber die Übelkeit, die mich vorher befallen hatte, kehrte nicht wieder.
    Beim Essen schwankte Austin zwischen Ausbrüchen fröhlicher Geschwätzigkeit und Phasen vollkommenen Schweigens, während deren er ganz in Gedanken versunken zu sein schien. Ich versuchte, auf unsere früheren gemeinsamen Interessen anzuspielen, aber er reagierte gleichgültig. Es versetzte mir einen schmerzlichen Stich, als ich an unsere Leidenschaft dachte, mit der wir als junge Männer bis spät in die Nacht hinein über Plato diskutiert hatten. Ich wollte ihn dazu bringen, über die Stadt zu reden, über die Schule und über die kleine Gemeinschaft um die Kathedrale herum, doch er wich meinen Fragen aus.
    Wie ich feststellte, hatte er auch keine Lust, über die Vergangenheit zu sprechen. Es war, als wäre sie ihm entfallen. Wenn ich von Leuten oder Ereignissen aus früheren Zeiten redete, zeigte er sich desinteressiert. Ich sprach von unseren Lehrern in Cambridge und was aus ihnen geworden war, und er lächelte und nickte. Und als ich mich erkundigte, erzählte er mir ein bißchen von den paar Leuten, mit denen er in Verbindung geblieben war und ich nicht. Ich berichtete ihm von meiner Arbeit über König Alfred und meinem Interesse an seinem heroischen Widerstand gegen die einfallenden Heiden, und er nickte, als ob er gar nicht richtig zugehört hätte. Alles in allem ließ mir sein Verhalten seine Gründe, warum er unsere Bekanntschaft erneuern wollte, nur noch rätselhafter erscheinen.
    Endlich stand er auf. »Den Nachtisch werden wir oben verzehren, und …«
    »Halt!« rief ich und hob die Hand. »Ich habe gerade die Haustür gehört. Es ist jemand hereingekommen.« Ich war mir ganz sicher, daß ich das Klicken des Schlosses vernommen hatte.
    »Unsinn«, erwiderte er ungeduldig. »Wahrscheinlich hat nur die Treppe geknarrt. Dies ist ein altes Haus, und es führt Selbstgespräche wie ein kindischer alter Mann. Gehen wir hinauf, dann erzähle ich dir die Geschichte von dem Domherrn, der keine Ruhe findet.«
    »Aber erzähl mir doch erst einmal deine eigene Geschichte!« wandte ich ein. Ich hatte eigentlich nicht so damit herausplatzen wollen, aber der Wein bewirkte wohl, daß ich weniger zurückhaltend war als sonst, wenngleich ich gar nicht soviel getrunken hatte. Seit zwei Jahrzehnten lebte Austin nun in dieser Stadt und hämmerte seine Mathematik in die Köpfe der rüpelhaften Söhne wohlhabender Tuchhändler, Apotheker und Bauern ein. Ich hatte mir oft Gedanken über sein enges, trübsinniges Leben gemacht und mich gefragt, ob er wohl manchmal auch an mich dachte und wie anders alles hätte kommen können.
    Er sah mich seltsam an. »Deine Lebensgeschichte meine ich; die Geschichte deiner Tage in dieser Stadt hier.«
    »Ich habe keine Geschichte«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich gehe hier ruhig meinen Pflichten nach. Mehr gibt es nicht zu erzählen.«
    »Und das ist alles, was du über mehr als zwanzig Jahre zu sagen hast?«
    »Was gibt es da groß zu sagen? Ich habe meine Freunde, von denen du einige kennenlernen wirst. Mit ein paar von meinen Kollegen an der Schule – Junggesellen wie ich – bin ich sehr gut befreundet, und ich habe auch Bekannte in der Stadt. Alles in allem sind wir eine ziemlich liederliche Gesellschaft von Männern, die zuviel Zeit im Wirtshaus verbringen, weil sie niemanden haben, der zu Hause auf sie wartet. Aber ich bewege mich auch in vornehmeren Kreisen, weil mich die Frauen einiger Domherren und Schullehrer als eine Art Schoßhund adoptiert haben.«
    Ich lächelte. »Und hast du nie daran gedacht zu heiraten?«
    Er grinste mich an. »Ach, wer würde mich schon nehmen? Ich war schon als junger Bursche keine besonders gute Partie, und jetzt noch viel weniger.«
    Ich wagte es nicht weiterzufragen, weil ich nicht wollte, daß er mich für neugierig hielt. Ich dachte an seinen Takt, mit dem er es vermieden hatte, mir schmerzliche Fragen darüber zu stellen, wie mein Leben verlaufen war, seit wir die Verbindung miteinander verloren hatten. Vielleicht hatte er mich eingeladen, weil er

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