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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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bartlos, doch der ältere Mann, der sie überwachte, hatte ein piratenhaftes Aussehen mit einem wilden schwarzen Bart sowie ein ärgerliches, anmaßendes Auftreten. Meine Aufmerksamkeit wurde allerdings mehr von einem hochgewachsenen alten Mann in schwarzer Soutane erregt, der ihnen zusah. Er war mindestens siebzig, ganz sicher älter als das Jahrhundert. Er hatte dicke Tränensäcke unter den Augen und tiefe Falten in den eingesunkenen Wangen und wirkte wie ein Mensch, dem ein entsetzliches Unrecht widerfahren war und der Jahrzehnte damit zugebracht hatte, darüber nachzubrüten. Sein hoher Wuchs und sein glatter, haarloser Schädel ließen ihn aussehen wie ein Stück der Kathedrale, das zum Leben erwacht war, oder besser gesagt, das ein gewisses Maß an Lebendigkeit angenommen hatte. Sein fast waagrechter Mund zeigte einen Ausdruck von Mißbilligung.
    Ich ging auf ihn zu und sagte: »Könnten Sie so freundlich sein und mir sagen, was diese Leute hier machen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie richten eine Menge Unheil an, Sir.«
    »Sind Sie ein Küster?«
    »Der oberste Küster, und das seit fünfundzwanzig Jahren«, antwortete er mit einer Mischung aus Stolz und Melancholie, wobei er sich gerade aufrichtete. »Mein Vater und Großvater haben dieses Amt vor mir bekleidet; und wir alle drei waren schon Chorknaben zu unserer Zeit.«
    »Wirklich? Was für eine bemerkenswerte Dynastie. Und die nächste Generation?«
    Sein Gesicht verfinsterte sich. »Mein Sohn will nichts davon wissen. Es ist sehr traurig, wenn das eigene Kind der Sache den Rücken dreht, der man sein ganzes Leben gewidmet hat. Verstehen Sie, was ich meine, Sir?«
    »Ich kann es mir vorstellen; obwohl ich selbst keine Kinder habe.«
    »Es tut mir sehr leid, das zu hören, Sir«, sagte er ernsthaft. »Das muß für Sie und Ihre Frau ein großer Kummer sein, wenn ich so sagen darf.«
    »Ich habe auch keine Frau.« Dann fügte ich hinzu: »Ich hatte einmal eine Frau … das heißt …« Ich verstummte.
    »Dann tut auch das mir sehr leid. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit auf dieser Erde, Sir, aber es ist mir ein großer Trost zu wissen, daß ich drei wunderbare Enkelkinder hinterlassen werde. Drei Enkelkinder und zwölf Urenkel.«
    »Das ist in der Tat ein Grund, Sie zu beglückwünschen. Aber würden Sie jetzt so freundlich sein, mir zu sagen, was hier vorgeht? Wenn Sie all die Jahre hier gearbeitet haben, müssen Sie das Gebäude ja sehr gut kennen.«
    »Ich kenne jeden Winkel dieses Doms, Sir. Und es ist mir ein großer Kummer zu sehen, wie sie ihn aufhacken.«
    »Warum macht man das?«
    »Es ist wegen der Orgel. Sie haben eine neue Empore im Querschiff gebaut. Sie werden dieses gräßliche, neumodische Ding ja bemerkt haben, das mehr wie ein Traktor aussieht als wie eine Orgel. Und jetzt werden die Rohrleitungen dafür verlegt.«
    »Sie wollen doch nicht etwa die Platten in ihrer ganzen Länge aufreißen«, fragte ich und deutete mit dem Arm in Richtung auf die neue Orgel.
    »Genau das haben sie vor. Die Leute haben ja keine Ahnung, was sie damit anrichten; und es ist ihnen auch egal.«
    »Aber was ist an der ursprünglichen Empore denn verkehrt? Soviel ich weiß, ist sie eine gelungene Arbeit aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert.«
    »Allerdings, Sir. Aber anscheinend nicht gut genug. Nicht gut genug für Seine Wichtigkeit, der die Orgel bisher gespielt hat – und der ist offenbar wichtiger als wir, die sie anhören. Oder wir, die wir diese babylonische Monstrosität jeden Tag unseres Lebens werden anschauen müssen.«
    »Sprechen Sie vom Organisten?«
    Er fuhr fort, ohne meine Frage zu beachten: »Einige der Domherren wollen nämlich, daß die Orgel groß und laut sein soll und genau hier steht, wo die Gemeinde sie auch sehen kann, damit sie in den Gesang einstimmt; und die auf der anderen Seite wollten die alte Orgel behalten, weil sie mit dem Chor zusammen so schön klingt und die Stimmen nicht so übertönt, wie es die neue tun wird.«
    »Solche Streitigkeiten zwischen Ritualisten und Evangelisten gibt es in jedem Domkapitel im ganzen Land«, sagte ich.
    »Wie recht Sie doch haben, Sir. Als ich noch ein Junge war, war dergleichen undenkbar. Damals war man ein guter Christ und betete in der Kathedrale, oder man war ein Nonkonformist oder ein Papist, und damit basta. Heute sind die Nonkonformisten und die Papisten auch in der Kirche, und alle streiten miteinander über das Ornat und über Kerzen und Weihrauch und Prozessionen. In meinen Augen sind

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