Die schwarze Kathedrale
fehlte. Als ich an der Vordertür ankam, sah ich, wie der unglückliche Perkins gerade das Haus von Mr. Stonex verließ, um die schmutzigen Töpfe und Schüsseln vom Vortag zum Gasthaus auf der anderen Straßenseite zu tragen.
Ich trat näher und bemerkte, daß ein Stück Papier an die Tür geheftet war, auf dem in kleinen Buchstaben, die man nur aus nächster Nähe lesen konnte, gekritzelt stand: »Komm herein.« Obwohl ich mir eigentlich denken konnte, daß die Aufforderung dem Kellner galt, redete ich mir ein, sie sei an mich gerichtet. Nachdem ich ohne Erfolg geklopft hatte, drückte ich auf die Klinke, fand die Tür unverschlossen und trat ein.
In der Wohnküche war niemand, und sie sah genauso aus wie beim letzten Mal, nur daß der Tisch nicht zum Tee, sondern zum Abendessen gedeckt war. Das Essen, das Perkins gebracht hatte, stand auf dem Tisch und wurde kalt. Neben den Tellern und Schüsseln lag ein großes in Leder gebundenes Buch, das ich mit für mich selbst erstaunlicher Kühnheit aufklappte. Es war ein alter Atlas mit faszinierenden handkolorierten Karten. Es mußte der Atlas sein, von dem der alte Herr am Morgen gesprochen hatte, und ich war mir ganz sicher, daß sich Mr. Stonex irgendwo im Haus aufhielt. Also beschloß ich zu warten, bis er hereinkam, um sein Abendessen zu sich zu nehmen.
Ich mußte mich etwa zehn bis fünfzehn Minuten lang mit dem Atlas beschäftigt haben. Dann wurde mir allmählich bewußt, wie ungehörig das war, was ich hier tat. Vielleicht wäre Mr. Stonex ja gar nicht so erfreut, wenn er mich hier wartend vorfände. Mir schien es zunehmend seltsam, daß niemand hereinkam, das Essen unberührt auf dem Tisch stand und es so vollkommen still war. Ich wagte aber nicht, weiter in die Räumlichkeiten einzudringen. Als ich mich umsah, entdeckte ich auf der Anrichte die Tafel mit der mit Kreide geschriebenen Nachricht, genau wie der Kellner sie später beschrieben hat. Ich weiß, daß Perkins den Inhalt der Nachricht korrekt wiedergegeben hat, denn ich kann mich noch erinnern, daß ich mir dachte, daß es keinen Sinn hatte, länger zu warten, wenn Mr. Stonex beschäftigt war; ich ging also wieder auf die Straße hinaus.
Nun war ich in einer mißlichen Lage. Vor Einbruch der Dunkelheit konnte ich in der Schuluniform der Chorknaben – einfache schwarze Jacke und weißgrundige Pfeffer-und-Salz-Kniehosen – nicht in der Stadt herumlaufen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, denn es war allgemein bekannt, daß ich zu dieser Stunde eigentlich bei der Chorprobe sein müßte. Ich hatte eine Idee. Sehr vorsichtig, weil niemand mich sehen sollte, der mich kannte, ging ich zur anderen Seite der Kathedrale. Von dort aus konnte ich durch das Fenster des Kapitelhauses spähen, wo die Chorprobe stattfand. Ich sah den Chorleiter am Klavier stehen – er setzte sich niemals hin, weil es dann schwieriger gewesen wäre, einem Jungen einen Schlag zu verpassen. Die Tatsache, daß er Klavier spielte, bedeutete, daß Mr. Slattery noch nicht da war, aber das überraschte mich nicht, weil er oft zu spät kam. Nach ein paar Minuten, etwa um zwanzig Minuten vor fünf, sah ich, wie er hereingestürzt kam. Er wirkte, wie immer, trotzig und nachlässig zugleich. Der Chorleiter starrte ihn wütend an, aber Mr. Slattery zog sich mit einem fuchsartigen Lächeln den Klavierschemel heran und setzte sich an die Tastatur. Ich muß dazusagen, daß ich an seiner Erscheinung nichts Ungewöhnliches bemerkte. Er sah unordentlich aus, aber das war immer der Fall. Sein teigiges Gesicht war gerötet, was aber auch vom Alkohol kommen konnte. Kurz gesagt, er sah so aus, als habe er den Nachmittag auf seine gewohnte Weise verbracht, nämlich im Wirtshaus. Während der nächsten zwanzig Minuten schaute ich den anderen Jungen und den erwachsenen Männern zu, wie sie das taten, was ich eigentlich mit ihnen zusammen hätte tun sollen, und mich beschlich das seltsame Gefühl, nicht mehr zu ihnen zu gehören, fast so, als ob ich gestorben sei. Und meine Ängste wegen des ruinierten Notenblatts, die mir so sehr zugesetzt hatten, erschienen mir auf einmal von geradezu absurder Bedeutungslosigkeit.
Obwohl ich wußte, wie sehr ich mich vor dem Chorleiter fürchten würde, wenn ich da drinnen wäre, wirkte die Szene ausgesprochen anheimelnd. Die Gaslampen waren hochgedreht, in einer Ecke flackerte ein helles Feuer, und ganz schwach konnte ich den Gesang vernehmen. Und dennoch wußte ich, daß der Zauber eine Illusion war, und ich war froh,
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