Die schwarze Kathedrale
daß ich noch einmal, und diesmal auch noch ungeladen, an jenem Nachmittag in sein Haus eingedrungen war. Natürlich wußte ich nichts von der Bedeutung der Schlüssel. Am Sonnabend nach dem Frühstück rief mich der Schulleiter in sein Arbeitszimmer. Er hatte mich also doch nicht vergessen. Wenn er mich damals gefragt hätte, warum ich während der Chorprobe am Donnerstag zum neuen Dekanat gegangen sei, hätte ich ihm ganz sicher alles gestanden, verängstigt und erschüttert, wie ich war. Aber die Gründe, warum ich geschwänzt hatte, interessierten ihn überhaupt nicht. Er machte sich einfach – nach Brandy stinkend und bei jedem Schlag nach Atem ringend – daran, mich zu verprügeln. An diesem Nachmittag hörte ich auch, wie zwei Dienstboten voller Entsetzen über Perkins’ Tod miteinander sprachen.
Als ich vor einigen Monaten nach Cambridge fuhr und dem Präsidenten und den Fellows von Colchester die Dokumente aus Florenz vorlegte, die den erforderlichen Beweis darstellten, gaben sie zu erkennen, daß sie an dem Fall ein sehr reges Interesse hatten. Es zeigte sich, daß einige von ihnen über – wie ich es nennen möchte – wissenschaftliche Kenntnisse zu dem Thema verfügten, und sie waren fasziniert zu hören, daß ich einige noch nicht bekannte Fakten dazu beitragen konnte. Das Siegel von Professor Courtines Bericht wurde feierlich erbrochen, und der Bibliothekar las das Schriftstück vor. Dies dauerte fast den ganzen Tag, mit einer kurzen Pause zum Mittagessen. Als dieser Vorgang abgeschlossen war, bat mich der Präsident, mich einige Minuten zurückzuziehen, während er und die Fellows sich miteinander berieten, wie es in Professor Courtines Brief von ihnen verlangt wurde. Dann rief er mich zurück und fragte, ob ich die Verantwortung für die Herausgabe und Veröffentlichung des Berichts übernehmen und eine Einleitung dazu schreiben wolle. Ich sagte sofort zu.
Indem ich diese Aufgabe übernahm, verpflichtete ich mich auch, die Ereignisse des ausschlaggebenden Zeitraums, der in Professor Courtines Bericht behandelt wird, nach bestem Vermögen zu erklären. Auf diese Weise entstand eine Art wissenschaftliche Ausgabe mit Kommentar. Natürlich interessierte ich mich auch für das Märchenbuch, das Professor Courtine in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag bei Fickling gefunden hatte und in dem die Geschichte stand, die er las, während er auf die Rückkehr seines ehemaligen Freundes wartete. Das Buch war aus der Bibliothek des Courtenay Instituts entliehen, wo ich es auch noch fünfundzwanzig Jahre später fand. (Man mag sich den Kopf darüber zerbrechen, warum die Geschichte einen so großen Eindruck auf Dr. Courtine machte.)
In seinem Bericht beschreibt Dr. Courtine, daß er an jenem Freitag abend endlich die Wahrheit herausfand und begriff, wie sein alter Freund, oder besser gesagt, sein ehemaliger Freund ihn benutzt hatte. Er war nach Thurchester gelockt und geschickt dazu gebracht worden, die Rolle eines über alle Zweifel erhabenen Zeugen zu spielen – jedoch eines Zeugen für eine Lüge. An seinem ersten Abend war ihm von Fickling die Gespenstergeschichte ausschließlich zu dem Zweck erzählt worden, um ihn dazu zu bringen, zum neuen Dekanat zu gehen und die Inschrift zu lesen, damit er Mr. Stonex – beziehungsweise eine Person, die er für Mr. Stonex hielt – kennenlernen und die Einladung zum Tee erhalten sollte. Diese Begegnung war natürlich eine Scharade. Die Person, die den alten Herrn darstellte, hatte sich einfach vor der Hintertür postiert, und zwar genau zu der Zeit, zu der man sicher sein konnte, daß Mr. Stonex beim Abendessen saß. Die Absicht war, daß Dr. Courtine annehmen sollte, daß die Person, die ihn mit Tee bewirtete, Mr. Stonex sei, obwohl der alte Herr zu der Zeit, als er und Fickling ankamen, bereits tot war.
Miss Napier kam der Wahrheit mit ihrer Annahme sehr nahe, daß der Mörder das Haus als die Frau verkleidet verlassen habe, die von Appleton gesehen wurde. In Wirklichkeit war diese Person aber tatsächlich eine Frau. Und zwar war sie die gleiche Frau, die Courtine gehört hatte, als er Fickling in den frühen Morgenstunden desselben Tages durch das Fenster des Hauses in der Orchard Street beobachtet hatte. Aber sie hatte im neuen Dekanat natürlich nicht allein gehandelt, denn eine Frau, selbst eine Frau in der Blüte ihrer Jahre – was diese nicht mehr war, obwohl sie gesund und aktiv für ihr Alter war und ganz bestimmt keinen Schlaganfall erlitten hatte
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