Die schwarze Kathedrale
würde. Als die gähnende Hausangestellte die Tür öffnete, verbeugte ich mich und lenkte meine Schritte zu Austins Haus.
Mittwoch nacht
Als ich über den dunklen Domplatz ging, dachte ich an all das Leben, die Wärme und Zuneigung, deren Zeuge ich gerade geworden war, und mein eigenes Leben erschien mir im Vergleich damit allzu ruhig. Um mich herum war kein Laut zu vernehmen, und obwohl ich die Stille immer geliebt hatte, begann sie hier einen bedrohlichen Charakter anzunehmen.
Sisterson, der zehn oder fünfzehn Jahre jünger war als ich, hatte sich freudig all die Sorgen und Verpflichtungen aufgeladen, die ich auf die eine oder andere Weise immer vermieden hatte. Es war auffallend, daß er sich von den drei Domherren, die ich kennengelernt hatte, am wenigsten um die Eifersüchteleien und Rivalitäten des Domkapitels kümmerte.
Ich stand vor Austins Tür, hatte aber noch nicht das Bedürfnis, hineinzugehen, und so beschloß ich, noch einmal um die Kathedrale herumzugehen, die wie ein riesiges Tier im schwarzen Käfig des Domplatzes kauerte.
War ich in wenig großmütiger Weise wegen des Gedankens befriedigt, daß Austin jeden Bereich seines Lebens verpatzt hatte? Auch wenn mir Dr. Sistersons häusliches Glück fehlte, so hatte ich doch wenigstens einen interessanten, angesehenen und gutbezahlten Beruf, während mein Freund in einer Welt provinzieller Trübsal und Bedrückung versunken war. Im Gegensatz zu ihm tat ich genau das, was ich immer gewollt hatte und was mir auch Freude bereitete: Vorlesungen halten, wissenschaftlich arbeiten und Bücher schreiben. Natürlich hatte Austin recht gehabt mit seiner Behauptung, daß Glück mehr sei als nur das Fehlen von Unglück. Und jetzt, wenn ich so darüber nachdachte, kam ich zu dem Ergebnis, daß ich nicht von mir behaupten konnte, glücklich zu sein. Ich dachte mir, daß manche Leute ein Talent fürs Glück hätten, während andere immer wieder auf Unglück stießen, als ob sie danach suchten. Vielleicht lag das an der Angst vor Enttäuschung. Ich hatte immer geglaubt, Glück sei etwas, das irgendwann von alleine zu mir kommen würde, wenn ich es vermied, Fehler zu machen. Ich war stets vorsichtig gewesen und hatte in meinem Leben nur wenige Fehler begangen – bis auf diesen einen schwerwiegenden Irrtum, für den ich immer noch die Strafe zahlte.
Absurderweise hatte ich nie aufgehört, mich für jung zu halten. Weil ich ständig von Studenten umgeben war, hatte ich daran festgehalten, mich beinahe wie ein Altersgenosse dieser jungen Leute zu fühlen. War das der Grund, warum ich immer gemeint hatte, mein eigentliches Erwachsenenleben würde irgendwann in der Zukunft beginnen? Und jetzt stellte ich plötzlich fest, daß ich fast fünfzig Jahre alt war – und es zu spät war. Mein restliches Leben würde weiterhin in genau den gleichen Bahnen verlaufen wie in den vergangenen dreißig Jahren.
Obwohl ich mich immer noch für jung gehalten hatte, fragte ich mich manchmal, ob meine Einstellung gegenüber meinem späteren Leben deshalb so intellektuell und theoretisch geworden war, weil ich zu früh zu viele Bücher gelesen hatte und mich deshalb fast davor gedrückt hatte, durch das Stadium des Heranwachsens und der Jugend zu gehen. In gewissem Sinne war ich deshalb viel jünger gewesen, als es tatsächlich der Fall war, als ich mich in meine Frau verliebt hatte.
Ich umrundete die Ostseite der Kathedrale und kam mir auf dem verlassenen Domplatz vor wie ein Gespenst. Aber im Gegensatz zu dem Domherrn Burgoyne würde sich in hundert Jahren niemand mehr an mich erinnern. Nicht einmal in fünfzig.
Und niemand würde meinen Namen tragen. Was würde ich hinterlassen? Ein paar staubige Bücher, die ungelesen in den Regalen von Bibliotheken herumstehen würden? Verblassende Erinnerungen in den Köpfen meiner Studenten – wenn sie überhaupt an mich dachten, und warum sollten sie das?
Mir wurde langsam bewußt, daß meine mangelnde Bereitschaft, Zeit und Aufmerksamkeit auf Dinge und Menschen zu verwenden, die mich langweilten, dazu geführt hatte, daß ich vieles aus meinem Leben ausgeschlossen hatte. Alte Texte, Widersprüche oder Lücken in der historischen Überlieferung – das alles hatte mich unendlich fasziniert und überdies den Vorteil gehabt, daß ich mich sofort etwas anderem zuwenden konnte, sobald mein Interesse erlosch. All meine Leidenschaft war in diesen Aspekt meines Lebens geflossen. Ich hatte es mir in den letzten zweiundzwanzig Jahren nicht einmal
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