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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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meinte sie: »Was ich ebenfalls nicht verstehe, ist, warum er aus der Stadt geflohen ist.«
    »Das habe ich mich auch gefragt«, stimmte Dr. Sisterson zu. »Man hätte Burgoynes Tod ohne weiteres für einen Unfall halten können, und wenn Gambrill einfach ruhig nach Hause gegangen wäre, hätte nie jemand etwas von der Rolle erfahren, die er dabei gespielt hat.«
    »Seine Frau und seine Kinder einfach im Stich zu lassen!« flüsterte Mrs. Locard und sah auf das schlafende Kind in ihrem Schoß hinunter.
    »Das ist wirklich seltsam«, stimmte ich zu. »Als Junggeselle hat Dr. Sheldrick dieser Frage vielleicht nicht genug Gewicht beigemessen«, meinte Mrs. Sisterson.
    Ihr Mann lachte leise. »Im Gegenteil, ich möchte fast sagen, daß wir genau damit auf Gambrills Grund gestoßen sind, warum er die Stadt verlassen hat.« Wir lächelten, und er fuhr fort: »Übrigens, erzählt Dr. Sheldrick, was später aus Limbrick wurde?«
    »Er übernahm Gambrills Geschäft und führte es im Namen seiner Witwe weiter.«
    »Wirklich? Und was wurde aus der Witwe und den Kindern?« wollte er wissen.
    »Nach einigen Jahren stellte sie den Antrag, ihren Mann für tot erklären zu lassen, was nach langer Verzögerung schließlich auch geschah.«
    »Und Limbrick heiratete sie?« fragte Mrs. Locard.
    »Wie schlau von Ihnen, wenn ich so sagen darf. Offenbar hatte sie in der Zwischenzeit mehrere Kinder von ihm bekommen.«
    »Ich glaube«, erklärte sie, »daß er in der ganzen Geschichte eine außerordentlich wichtige Rolle spielt.«
    »Könnte es denn sein«, fragte Dr. Sisterson, »daß er den Zwist zwischen Burgoyne und Gambrill schürte und dabei vorgab, ein Friedensstifter zu sein?«
    »Sie haben den Verdacht, daß er selbst in den Mord verstrickt war? Das wäre möglich, Burgoynes Familie hat allerdings große Anstrengungen unternommen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, und Dr. Sheldrick erwähnt nichts von einer solchen Hypothese. Burgoynes Neffe, ein junger Mann namens Willoughby Burgoyne, brachte mehrere Wochen in der Stadt zu und versuchte herauszufinden, was wirklich passiert war. Er wußte natürlich von der feindseligen Haltung des Domkapitels gegen seinen Onkel, aber er entdeckte keine Beweise, die für eine Anklage ausgereicht hätten.«
    Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, dann erinnerte uns das dröhnende Schlagen der Kirchturmuhr, wie spät es schon war. Dr. Sisterson bat mich, Mrs. Locard zum Dekanat zu begleiten, und obwohl sie versicherte, daß das nicht nötig sei, war ich nur zu gerne bereit, mit ihr zu gehen. Wenige Minuten später verließen wir das Haus, und auf dem kurzen Weg über den Domplatz sprachen wir über Dr. Sisterson und seine Frau und ihr offensichtliches Glück miteinander.
    Als wir uns dem Dekanat näherten, sagte Mrs. Locard: »Ich fand ihre Darstellung von Burgoynes Geschichte faszinierend. Sie haben alles so lebendig geschildert. Ich glaube, Sie sind ein wunderbarer Lehrer.«
    »Das weiß ich nicht, aber ich versuche wirklich, die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken«, erwiderte ich. »Ich halte es für sehr wichtig, daß die jungen Leute erkennen, daß die Männer und Frauen vergangener Zeiten auch menschliche Wesen waren, mit den gleichen Leidenschaften und Ängsten wie wir.«
    »Und doch können wir nicht wirklich sicher sein, daß der Domherr Burgoyne so edel war, wie Dr. Sheldrick uns glauben machen will, und der Subdekan Freeth ein solches Ungeheuer, nicht wahr?«
    »Absolut sicher nicht. Aber wenn in einem bestimmten Fall alle Indizien in die gleiche Richtung weisen, dann können wir zumindest so sicher sein, wie wir es sein müssen.«
    »Glauben Sie nicht, daß wir unsere eigenen Wünsche in die Gestalten der Vergangenheit hineininterpretieren, weil wir als irrende Sterbliche niemals wirklich unvoreingenommen sind?«
    »Diese Gefahr besteht ganz bestimmt. Das einzige, was wir dagegen tun können, ist, uns unserer persönlichen Motive bewußt zu sein und unsere Vorurteile mit in Betracht zu ziehen.«
    »Das ist natürlich eine sehr kluge Vorgehensweise«, meinte sie lächelnd, »aber nicht immer ganz leicht durchzuhalten.«
    Zu meinem Bedauern waren wir bereits beim Dekanat angelangt. Im Laufe des Abends war mir klargeworden, an wen Mrs. Locard mich erinnerte, und als ich mich von ihr verabschiedete, verlieh ich meiner Hoffnung Ausdruck, sie vor meiner Abreise noch einmal zu sehen. Sie schüttelte mir die Hand und antwortete, daß sie sich darüber ebenfalls sehr freuen

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