Die schwarze Kathedrale
entsetzliches Getöse, das den ganzen oberen Domplatz erbeben ließ. Mehrere Domherren und Hilfsküster stürzten hinaus, um zu sehen, was passiert war, und stellten fest, daß das Dach, das obere Stockwerk und der alte Glockenturm des Haupttors zum Domplatz eingestürzt waren. Noch während die erschrockene kleine Menschenansammlung – Freeth, der Kantor und sogar der alte Dekan – die Ruine untersuchten und ein stilles Dankgebet dafür sprachen, daß sich nachts dort niemand aufgehalten hatte, hörten sie erneut ein Krachen. Diesmal, so stellten sie mit Entsetzen fest, kam es von der Kathedrale. Sie suchten das Gebäude mit den Augen ab, aber soweit sie in der tiefen Dunkelheit erkennen konnten, schien der Turm unbeschädigt zu sein. Niemand zeigte sich jedoch bereit, sich in das Gebäude zu wagen, solange der Sturm tobte. Da erfuhren sie von Claggetts Dienstmädchen, daß Burgoyne den Schlüssel der Kathedrale nicht zurückgebracht hatte. Dennoch war keiner der Anwesenden bereit, hineinzugehen und nach ihm zu suchen.«
Dr. Sisterson stand auf, ging zum Fenster hinüber und öffnete es. »Ich kann mir vorstellen, warum. Heute haben wir eine windstille Nacht. Aber stellen Sie sich mal einen Sturm vor.«
Ich trat neben ihn. Die Straßenlaternen auf dem Domplatz flackerten. Durch Nebel und Dunkelheit sah man die Kathedrale so nah neben uns aufragen, als stünden wir vor einer Klippe. »Es muß erschreckend gewesen sein«, stimmte ich zu, »im Schatten dieses riesigen Gebäudes zu stehen und fürchten zu müssen, daß der oberste Teil einstürzen könnte.«
Der Domkustos erschauerte. »Bitte mach das Fenster zu, Frederick«, protestierte Mrs. Sisterson, die sein Erschauern mißverstand. »Es ist eiskalt, und du wirst noch die Kinder wecken.«
Mein Gastgeber kam ihrem Wunsch nach, und wir setzten uns wieder hin. Ich fuhr fort: »Auch einige der anderen Domherren kamen zum Dekanat, um nachzusehen, was passiert war. Aber keiner wagte sich in die Kathedrale. Im Gegenteil, einige fürchteten sich sogar, in ihren umstehenden Häusern zu bleiben. Limbrick erschien ebenfalls und riet dringend ab, den Dom während des Sturmes zu betreten. Und so warteten sie ab. Als der erste Schimmer des Tageslichts sich am Himmel über der Niederung von Woodbury zeigte, hatte sich der Sturm weitgehend gelegt. Zitternd schlichen sich der alte Dekan, Freeth, der Kantor, Limbrick und einer der Hilfsküster vorsichtig in die Kathedrale.
Stellen Sie sich vor, was das für ein Gefühl gewesen sein muß, die ganze ungeheure Länge des Hauptschiffs entlangzugehen mit nichts als zwei oder drei Laternen, um den Raum zu erleuchten, während der Wind um die Vierung und den Hauptturm heulte und die Männer daran erinnerte, daß jeden Augenblick Steine und Holzbalken auf sie herabstürzen könnten. Doch außer dem Heulen des Windes war noch ein anderes Geräusch zu vernehmen, das ihnen die Haare zu Berge stehen ließ: etwas, das klang wie eine menschliche Stimme, jemand, der in Schmerz und Verzweiflung stöhnte und jammerte.
Als sie sich der Vierung näherten, ragte vor ihnen plötzlich etwas Riesiges in der Dunkelheit auf. Ihr Entsetzen ließ nur wenig nach, als sie erkannten, daß das, was sie da vor sich hatten, das Gerüst war, das zusammengebrochen war und als Haufen von Gebälk und gesplittertem Holz am Boden lag; das mußte den Lärm verursacht haben, den sie aus der Kathedrale gehört hatten. Als sie näher herankamen und die Laternen hoben, sahen sie eine Lache einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit, die unter den Balken hervorsickerte. Sie lauschten und stellten fest, daß die menschliche Stimme, die sie zu hören geglaubt hatten, nur der Wind war. Sonst blieb alles still. Limbrick sagte den anderen, daß er fürchte, sie würden die Leiche seines Kollegen unter dem Holzhaufen finden. Er machte sie auch auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam, daß die Marmorplatte, die am Abend zuvor noch auf dem Gerüst geruht hatte, nirgends zu sehen war. Er hob seine Laterne zu der Stelle hoch, an der sie in die Wand eingelassen werden sollte, und zum Erstaunen aller befand sie sich genau am vorgesehenen Ort, weit oben an der Wand. Sie war säuberlich in die vorbereitete Vertiefung eingelassen, und das Mauerwerk darum herum war wieder geschlossen worden.
Limbrick schickte nach seinen Arbeitern. Sie brauchten zwei Stunden, um den Haufen von gesplittertem Holz wegzuschaffen. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, daß Gambrill seit Beginn des Sturmes
Weitere Kostenlose Bücher