Die schwarze Kathedrale
gestattet, zärtliche Gefühle für eine Frau zu entwickeln. Hatte ich die Tatsache, daß eine Heirat für mich unmöglich war, als Ausrede benutzt? Und doch wußte ich, daß ich mich selbst immer nur so wichtig genommen hatte, wie andere mich meiner Meinung nach auch nahmen. Wir beurteilen unseren eigenen Wert danach, wie andere uns einschätzen, denn man könnte sagen, daß wir uns nur als Pfand für andere besitzen. Wenn das so war, welchen Grund hatte ich dann, mich selbst hochzuschätzen? War ich wirklich zufrieden mit der Überzeugung, daß für mich keinerlei Aussicht mehr auf Liebe oder auch nur auf häusliches Glück bestand? Hatte jene lang zurückliegende Erfahrung mich für alle Zeiten so verschreckt, daß ich meine Seele nie mehr einem anderen Menschen anvertrauen konnte? Vielleicht – um dies kurz vorwegzunehmen – war ja die Tatsache, daß diese Überlegungen mich bis in mein Innerstes aufgewühlt hatten, der Grund, daß ich am Freitag in den frühen Morgenstunden den beunruhigendsten Traum meines Lebens haben sollte.
Als ich die Eingangstür öffnete, war die Gaslampe in der Halle heruntergedreht, und so nahm ich an, daß Austin noch nicht zu Hause war. Ich legte Hut und Mantel ab, ergriff eine Kerze und zündete sie an, aber als ich am Treppenabsatz im ersten Stock ankam, wurde mir aus dem Wohnzimmer ein Gruß entgegengerufen. Als ich hineinging, lag das Zimmer fast vollständig im Dunkeln, nur die glühenden Kohlen gaben ein flackerndes rötliches Licht.
Austin saß am Tisch und hatte eine Flasche und zwei Gläser vor sich. »Komm herein, setz dich und trink einen Schluck mit mir«, sagte er überschwenglich.
»Darf ich eine Kerze anzünden?« fragte ich. Er nickte, und als das Licht aufflammte, sah ich Austins lächelndes Gesicht. Im Kerzenschein sah er einen Augenblick wie der junge Mann aus, den ich vor langer Zeit gekannt hatte.
Er griff nach der Flasche, um Wein in das unberührte Glas zu gießen. Dann lächelte er und sagte: »Wie seltsam; sie ist wohl leer. Sei so nett und hol eine neue aus dem Schrank.«
Ich ging zum Schrank und wollte die Türe öffnen. »Sie ist verschlossen, Austin.«
»Doch nicht dieser Schrank«, sagte er scharf. »Lieber Gott, ich meinte den da drüben. Aber setz dich hin, ich hole sie schon selbst.« Er sprang auf und hastete zu dem Schrank neben der Tür, während ich Platz nahm. Er brachte eine zweite Flasche alten Portwein und machte sie auf. Offenbar hatte er seine Liebenswürdigkeit wiedergefunden. »Mein lieber, alter Freund«, sagte er. »Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Ich hatte schon befürchtet, du seist gekränkt und hättest beschlossen, mich zu verlassen, und das ist das letzte auf der Welt, was ich mir wünsche; wirklich das letzte.«
Ich war gerührt, obwohl es offensichtlich war, daß er ziemlich viel getrunken hatte und man seine Versicherungen deshalb nicht ganz wörtlich nehmen konnte. Als ich ihn ansah – so fröhlich und angeregt –, dachte ich an die vielen nächtlichen Sitzungen in unseren Studentenbuden, und das Herz tat mir weh vor Trauer über das, was einmal gewesen war und was hätte sein können.
»Warum hätte ich das tun sollen?« fragte ich.
Er füllte mein Glas bis zum Rand. »Weil ich mich abscheulich benommen habe. Ich war reizbar und streitsüchtig. Und dann dir diesen Zettel zu hinterlassen. Aber ich … ach, wenn du wüßtest. Ich war so …«
Ich legte meine Hand auf die seine, und er brach ab. »Lieber Austin, ich bin nicht beleidigt, nicht im geringsten. Ich weiß, daß dich irgend etwas bedrückt.«
Er sah mich erschrocken an. »Du irrst dich. Ich habe keine Sorgen.« Er zog seine Hand weg.
»Mein lieber, alter Freund, mir gegenüber mußt du keine tapfere Miene zur Schau tragen. Ich habe wohl gemerkt, wie nervös du die ganze Zeit warst. Und dann auch noch dein Alptraum. Ich weiß, daß dich etwas beschäftigt, und ich glaube, ich weiß auch, was es ist.«
Er starrte mich an. »Was meinst du?«
Ich wurde verlegen. Eigentlich hatte ich ja nichts sagen wollen. Aber ich hatte über den Klatsch nachgedacht, den ich an diesem Abend mit angehört hatte. »Ich weiß, daß es ernste Probleme an der Schule gibt.«
»An der Schule? Wovon redest du?«
»Ich habe gehört – und frage mich bitte nicht, von wem, weil ich es dir nicht sagen kann –, daß der Schulleiter nicht von allen respektiert wird und daß …«
»Du meinst den Direktor? Ich respektiere ihn sicher nicht.«
»Und daß die Dinge sich
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