Die schwarze Kathedrale
um Miniaturen handelte – und der seltsamen Geschichte mit dem Päckchen, das so geheimnisvoll hinter Austins Haustür aufgetaucht war.
Ich ging zum Schrank hinüber. Die Türen waren solide, und als ich versuchte, sie zu öffnen, stellte ich fest, daß sie tatsächlich abgesperrt waren.
Ich sah mich suchend im Zimmer um. Es fiel mir auf, daß die Bücherregale das einzig Ordentliche im ganzen Haus waren. Bedeutete das, daß Austin seine Bücher niemals anfaßte, oder genau das Gegenteil, daß er sie so liebte, daß er sie mit Sorgfalt in Ordnung hielt? Es fiel jedenfalls auf, daß ein einzelnes Buch herausgezogen worden war und quer auf der Seite lag. Ich bemerkte, daß sich ein Lesezeichen darin befand. Es war eine Märchensammlung, und im Deckel klebte ein Zettel, der es als Eigentum der Bücherei des Courtenay Instituts kennzeichnete. Einem Impuls folgend nahm ich es mit in mein Zimmer, machte mich bettfertig und schlüpfte unter die Decke.
Ich schlug das Buch bei dem Lesezeichen auf, dem Anfang eines der Märchen, und begann zu lesen. Aber ich war nicht recht bei der Sache. Ob die Gestalt, die ich auf der Orgelempore und später auf dem Domplatz gesehen hatte, nur in meiner Phantasie existierte? Ich mußte zugeben, daß ich im Laufe des Abends erheblich mehr getrunken hatte als sonst. Jetzt, da ich darüber nachdachte, schien mir zumindest einiges von dem, was ich gesehen hatte, erklärlich. Es konnte zum Beispiel sein, daß ich länger auf den Stufen der Kathedrale gestanden hatte, als mir bewußt gewesen war, und daß der frisch gefallene Schnee die Spuren der Gestalt zugedeckt hatte, bevor ich daran gedacht hatte, nach ihnen Ausschau zu halten. Dennoch blieb die Tatsache bestehen, daß dieses Wesen nicht von der Orgelempore zu der Stelle hätte gelangen können, an der ich es gesehen hatte, ohne an mir vorbeizugehen. Selbst jetzt, in der Sicherheit und Wärme meines Bettes, konnte ich über meine abergläubische Angst nicht lachen, denn ich hatte noch immer das seltsame Gefühl, etwas aus einer anderen Welt oder einer anderen Zeit gesehen zu haben. Unwillkürlich fiel mir Austins rätselhafte Bemerkung ein, daß er verloren sei – daß seine geheimnisvolle Leidenschaft ihn in die Verdammnis geführt habe. Das Wesen, das ich in dieser Nacht gesehen hatte, war böse, vielleicht sogar verdammt, insofern dieses Wort überhaupt eine Bedeutung hatte.
Neugierig, welche Art von Lektüre Austin schätzte, zwang ich mich, das Märchen zu lesen. Obwohl es eine ganz konventionelle Geschichte von einem tapferen jungen Prinzen, einer schönen Prinzessin und einem verzauberten Schloß war, fand ich sie zu meiner Überraschung zutiefst beunruhigend. Anschließend lag ich noch lange wach und dachte über bestimmte Abschnitte meines Lebens nach. Nach etwa einer Stunde hörte ich, wie Austin ins Haus schlüpfte und die Treppe heraufschlich. Aber es dauerte immer noch fast zwei Stunden, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Donnerstag vormittag
Austin schlief vermutlich noch schlechter als ich, als ich um Viertel vor sieben zum Frühstück herunterkam, war er noch nicht da. Ich kochte Kaffee und bereitete Toast für uns zu, und wenige Minuten später stieg er bleich und mitgenommen die Treppe herunter. Ich schwieg in der Hoffnung, daß er vielleicht von sich aus etwas über die Ereignisse der Nacht sagen würde – was zur Folge hatte, daß keiner von uns beiden während des Frühstücks mehr als ein paar Sätze sprach. Mir fiel auf, daß seine Hand zitterte, als er die Tasse an die Lippen hob. Er schien meinem Blick auszuweichen, und ich tat das gleiche, weil mir der Gedanke unangenehm war, er könnte womöglich festgestellt haben, daß ich ihm gefolgt war. Es ließ sich nicht ausschließen, daß er mich gesehen hatte, und außerdem fiel mir plötzlich ein, daß er womöglich Spuren von geschmolzenem Schnee in der Eingangshalle bemerkt haben könnte, als er nach Hause gekommen war.
Endlich brach er sein Schweigen: »Wenn die Bibliothek schließt, warte ich vor dem Eingang auf dich.«
»Warum das?«
Er sah mich mit offensichtlicher Überraschung an. »Hast du denn vergessen, daß der alte Mr. Stonex uns heute nachmittag zum Tee erwartet?«
Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach. Aber dann fiel mir ein, daß der Name Stonex mir bekannt vorkam. Natürlich! Der alte Bankier hatte ihn gestern abend erwähnt. Sein Vorfahr, der das neue Dekanat erworben hatte, hatte so geheißen. »Aber er
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